Prozess in Traunstein:Mein Nachbar, ein mutmaßlicher Kinderschänder

  • Konrad B. soll zwei Nachbarskinder vergewaltigt haben. Von Dienstag an steht er in Rosenheim vor Gericht.
  • Die Familie fühlt sich von Polizei und Behörden im Stich gelassen. Unter anderem sei die Zahl der schweren Missbrauchsfälle in der Anklage erheblich reduziert worden, kritisiert die Anwältin der Familie.
  • Mehr als 10 000 Kinderpornos, die bei B. gefunden wurden und teils schweren sexuellen Missbrauch von kleinen Kindern zeigen, kommen nicht zur Anklage.

Von Susi Wimmer, Rosenheim

Benedikt Dressler ist ein Mann, der keine Mauern mag, der lieber Zäune einreißt. Als der Arzt im Juli 2017 mit seiner Frau und den beiden Töchtern in ein Eigenheim im Raum Rosenheim zog, störte ihn die riesige Thujenhecke, die sein Grundstück begrenzte. Also entfernte er das Gewächs und ging offen auf die neuen Nachbarn zu. Nicht ahnend, dass sich Konrad B., damals noch bei BMW im mittleren Management tätig, als mutmaßlicher Kinderschänder entpuppen würde. An diesem Dienstag beginnt am Landgericht Traunstein der Prozess gegen B. wegen schweren sexuellen Missbrauchs.

Aus der Untersuchungshaft hat B. der Familie Dressler - alle Beteiligten heißen in Wirklichkeit anders - einen Brief geschrieben. Er wolle sich entschuldigen, er wisse, dass er "eine große Dummheit" begangen habe. Für Benedikt Dressler, seine Frau und seine Töchter Diana, sieben, und Luisa, fünf Jahre alt, war es schlichtweg die Hölle, sagt Dressler. Die Kinder seien schwer traumatisiert, die Ehe in einer Zerreißprobe, die Investition in das neue Heim sei zum Desaster geraten, ihr Leben, der Glaube an das Gute, alles sei dahin.

Hinter der Thujenhecke kam im Sommer 2017 der Zweitwohnsitz von Konrad B. und seiner Ehefrau zum Vorschein. Man grüßte sich, reichte Kuchen über den niedrigen Zaun, trank Kaffee und B. entwickelte "einen Zug zu unseren Kindern", so nennt es Dressler. Der 62-Jährige stand regelmäßig an der Grundstücksgrenze, fragte nach den Mädchen und lockte mit immer neuen Spielen. Er wollte ihnen eine alte Vespa zeigen, Quitten mit ihnen aufsammeln. Immer seien die Töchter mit vollen Händen zurückgekommen: Spielfiguren, Hefte, Stifte, alte Geldmünzen.

Dresslers Ehefrau Monika hatte ein mulmiges Gefühl, die Familie stellte Bedingungen: nur für 15 Minuten, in Sichtweite. Eines Tages rief Dressler seine Töchter vergeblich. Er ging auf das Nachbargrundstück, schließlich rufend ins Haus hinein, erzählt er. Im ersten Stock kam ihm die siebenjährige Diana mit Geschenken aus dem Schlafzimmer von B. entgegen. "Es war komisch und beklemmend, ich hatte ein Panikgefühl", sagt Dressler. Zu Hause wollte die Mutter wissen, was die Kinder mit B. spielten. Die Antworten blieben vage.

Bis zu einem Wochenende Anfang Dezember, als Diana unter Schluchzen und Schreien von B. erzählte. Wie er sie beim Versteckspiel zur Seite nimmt, sie teilweise gewaltsam ins Haus schleppt, sie entkleidet und sich an ihr vergeht. Vier- oder fünfmal insgesamt. Und wie er ihr droht, sie erpresst, ihr einmal sogar eine Waffe zeigt. So gibt es Dressler wieder.

Am 12. Dezember 2017 erstattet die Familie Anzeige bei der Polizei, am 15. Dezember wird Diana von der Kripo vernommen, ihre Angaben werden auf Video aufgezeichnet. Doch zunächst passiert nichts. Das Haus von Konrad B. wird nicht durchsucht, die Staatsanwaltschaft beantragt keinen Haftbefehl. Die Familie kehrt heim, der mutmaßliche Vergewaltiger winkt am Zaun. Die Kinder geraten in Panik, verstecken sich. Man sagt der Familie, sie müsse warten, das Verfahren dürfe nicht gefährdet werden, man wolle gleichzeitig an B.s Erstwohnsitz und in seinem Büro in München sowie im Haus bei Rosenheim durchsuchen, um zusätzliches Beweismaterial zu sichern. Man vertröstet die Dresslers: Vor Weihnachten seien nicht genug Leute für die Durchsuchungen zusammenzukriegen. Auch der Staatsanwalt sei im Urlaub.

Das Strafrecht schützt die Täter, aber wer schützt die Opfer?

Diana leidet an schweren Depressionen. Sie will das Haus nicht verlassen, nicht spielen, die Schule überfordert sie, sie fällt in ein Babyschema zurück, sagt Dressler. Auch die sonst so impulsive Luisa ist in sich gekehrt. Polizei und Staatsanwaltschaft hätten von einer Therapie für die Kinder abgeraten, die Originalversion des Geschehenen sollte nicht beeinflusst werden. Silvester schickt Konrad B. eine SMS, er wolle mit der Familie anstoßen auf das neue Jahr. Dressler schickt die Familie weg und trifft sich allein mit B. "Ich hab sogar noch einmal mit ihm Kaffee getrunken", sagt Dressler. Er habe das Schauspiel aufrechterhalten müssen, damit B. keinen Verdacht schöpfte. Am 2. Januar nimmt die Polizei B. fest. Benedikt Dressler sucht Hilfe beim Opferschutzverein Weißer Ring, doch der Mitarbeiter habe sich als guter Freund von B. erwiesen. So wie viele Beteiligte in dieser Geschichte, sagt Dressler.

In der Anklageschrift gegen B. sind zwei Taten des schweren sexuellen Missbrauchs an Diana aufgelistet und eine Tat des Missbrauchs an Luisa. Rechtsanwältin Manuela Denneborg, die die Dresslers vertritt, kritisiert, dass die Anklageschrift ausschließlich auf den Angaben des Täters basiere und somit die Anzahl der schweren Missbrauchsfälle erheblich reduziert worden sei. "Mein Mandant wird das einräumen, was in der Anklageschrift steht", sagt Rechtsanwalt Harald Baumgärtl. In seinem Entschuldigungsbrief aus dem Gefängnis schreibt B., er habe alles getan, um den Kindern "eine weitere Auseinandersetzung mit dem Geschehen" zu ersparen.

Die Familie hat sich verschuldet, um Sichtschutzwände zum Nachbargrundstück hochzuziehen

Die Staatsanwaltschaft hatte nach der Vernehmung von Diana bei der Kripo darauf verzichtet, gleich noch eine ermittlungsrichterliche Vernehmung per Video zu veranlassen, die vor Gericht verwertbar gewesen wäre. So wird es bei den wenigen angeklagten Taten bleiben. Sonst müsste Diana, die sich psychisch etwas stabilisiert hat, vor Gericht aussagen. Den Besitz von mehr als 10 000 Kinderpornos, die teilweise schweren sexuellen Missbrauch von kleinen Kindern zeigten, die die Polizei auf dem Rechner von B. gefunden habe, habe die Staatsanwaltschaft "zur Verfahrensentschlackung" nicht angeklagt, sagt Denneborg.

Der Entschuldigungsbrief könnte B. Pluspunkte im Verfahren einbringen, so ist es gängig bei Gericht. Egal, ob die Familie ihn akzeptiert. Auch der Täter-Opfer-Ausgleich könnte die Strafe mildern. Über seinen Anwalt schlägt B. eine Summe vor, die in etwa dem Bruttolohn eines Monats entspricht. Er hoffe, so schreibt er in seinem Brief, dass die Strafzumessung so niedrig ausfalle, dass er weiter bei BMW arbeiten könne und seine Altersversorgung gesichert sei. Er habe "die feste Absicht", das Nachbarhaus als Wohnsitz aufzugeben.

Benedikt Dressler hat sich verschuldet, um den Garten umzubauen und Sichtschutzwände zum Nachbargrundstück hochzuziehen. Er weiß nicht, unter welchen Spätfolgen seine Töchter leiden werden, wann sich das Leben seiner Familie wieder normalisiert. Er ist der Meinung, dass das Strafrecht stark auf die Täter ausgerichtet ist. "Es schützt die Täter, aber wer schützt die Opfer?"

Die Staatsanwaltschaft war für Anfragen nicht erreichbar. Ein Urteil soll am Freitag fallen.

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