Prozess in Regensburg:"Die Mama hat mich mit etwas überschüttet und angezündet"

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Am ersten Prozesstag wollen Jamies Eltern nicht über die Vorwürfe reden. (Foto: dpa)
  • Die eigene Mutter soll einen jünfjährigen Jungen im September 2016 beim Verbrennen von Diebesgut angezündet haben.
  • Die Eltern sollen dem lebensgefährlich verletzten Jungen nicht geholfen haben, sondern sich mit Sexspielen beschäftigt haben.
  • Nun müssen sie sich in Regensburg wegen gemeinschaftlich versuchten Mordes durch Unterlassen vor Gericht verantworten.

Aus dem Gericht von Andreas Glas, Regensburg

Es ist kurz nach neun, als Jessica B. in den Gerichtssaal schlurft. Sie trägt Kapuzenjacke, ihr Haar ist zum Pferdeschwanz gebunden. Eine Frau, "die ihre Kinder auch mag und liebt", sagt ihr Anwalt, "eine ganz normale Mutter". Aber normal ist nichts an dem Fall, um den es von Mittwoch an am Regensburger Landgericht geht.

Es muss etwas gewaltig schief gelaufen sein, wenn eine Mutter ihr Kind anzündet und die Eltern sich lieber ihrem Sexleben widmen als einen Arzt zu rufen. Der Richter soll nun Antworten finden auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass scheinbar normale Eltern ihren eigenen Sohn beinahe krepieren ließen.

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Als Jessica B. in den Saal kommt, sitzt ihr Mann Oliver S. bereits auf der Anklagebank. Ein kleiner, unauffälliger Mann mit kurzem, lichtem Haar. Die Staatsanwaltschaft wirft dem arbeitslosen Ehepaar, beide 37, gemeinschaftlich versuchten Mord durch Unterlassen vor. Das Opfer: ihr heute sechsjähriger Sohn Jamie.

Es geschah am 30. September 2016 im Garten des Paares, das mit seinen fünf Kindern in Waldmünchen (Kreis Cham) lebte. Wohl um einen Diebstahl zu vertuschen, goss Jessica B. Benzin aus einem Kanister über einige Gegenstände, die ihr Ehemann kurz vorher aus einem fremden Auto geklaut haben soll: ein Navigationsgerät, eine Brille, einen Kugelschreiber.

Weil auch der Kanister Feuer fing, soll Jessica B. ihn weggeschleudert haben. Brennendes Benzin trat aus und traf den kleinen Jamie, der auch im Garten war. Eine Minute lang soll der Bub gebrannt haben. Laut Anklage erstickte die Mutter die Flammen mit einer Jacke, dann trug der Vater den Buben ins Haus. Dort kühlten die Eltern dessen Körper mit kaltem Wasser.

Dann sollen sich die Eltern im Internet informiert und daher gewusst haben, dass ihr Sohn lebensgefährlich verletzt war und sofort hätte behandelt werden müssen. Weil sie nichts unternahmen, spricht die Staatsanwaltschaft von einer "gefühllosen, mitleidlosen und gleichgültigen Gesinnung" des Paares, das im Netz sehr bald nicht mehr nach Brandverletzungen googelte, sondern nach Sexualpartnern für Sadomaso-Spiele. Einem potenziellen Sexualpartner, einem Krankenpfleger, soll Oliver S. sogar geschrieben haben, dass sein Sohn schwer verletzt sei. Das Hilfsangebot des Pflegers soll S. abgelehnt haben.

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Die Sache flog auf, als die Eltern vier Tage später an eine Tankstelle fuhren und deren Pächterin der schwer verletzte Bub auffiel. Nachdem die Pächterin die Polizei gerufen hatte, soll ihr Jessica B. am Telefon mit Rache gedroht haben: "Wenn Sie die Tankstelle abends zusperren, ist es dunkel. Ich finde heraus, wo Sie wohnen und dann stehen Sie nicht mehr auf."

Am ersten Prozesstag wollen Jamies Eltern nicht über die Vorwürfe reden. Dafür spricht eine Kripobeamtin, die nach dem Anruf der Tankstellenpächterin mit Kollegen zum Haus des Paares gefahren war. Dort habe sie den Bub "zusammengekauert auf einer Couch in einem Zimmer sitzen sehen, am ganzen Körper zitternd".

Der Bub wurde in eine Spezialklinik nach Nürnberg gebracht, wo er mehrfach operiert wurde. Die Beamtin spricht von "katastrophalen Wohnverhältnissen", erzählt von Betten ohne Matratzen, einem Gynäkologenstuhl, einem Zimmer voller Hundekot. Spielsachen habe sie nicht gesehen.

Tragisch ist, dass die Familie vor der Tat wohl mehrfach Besuch vom Jugendamt hatte, die Mitarbeiter die Kinder aber offenbar nicht in Gefahr wähnten. Dabei sollen die Eltern schon an ihrem früheren Wohnort in Norddeutschland im Fokus des Jugendamts gewesen sein. Auch "so gut wie alle Nachbarn" hätten gewusst, wie es in der Familie zuging. Aktiv wurde niemand.

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Erst als die Nachbarn nach der Tat von der Polizei befragt wurden, berichteten sie, Jessica B. und Oliver S. beim Sex im Garten beobachtet zu haben, und dass deren Kinder öfter ohne Aufsicht auf der Straße rumgelaufen seien. Ein Nachbar habe deshalb sogar ein Warndreieck aufgestellt.

Nach der Tat soll der Vater zunächst ausgesagt haben, dass die Kinder selbst gezündelt hätten. Und den Kindern riet er offenbar, der Polizei nichts über den Vorfall im Garten zu erzählen. Doch einem Arzt soll der kleine Jamie schließlich verraten haben: "Die Mama hat mich mit etwas überschüttet und angezündet."

Gegen die Mutter wurde Haftbefehl erlassen, sie befindet sich seit einem Jahr in einer psychiatrischen Klinik. Wegen Schizophrenie, sagt ihr Anwalt. Darin sieht er auch den Grund für das Verhalten der Mutter. Ein paar Wochen nach Jessica B. kam auch ihr Mann in Haft, die Kinder waren da bereits in einer Pflegefamilie. Letztlich sagten auch Jamies Geschwister aus, dass die Mutter ihren Bruder so schwer verletzt habe.

Der Polizei sollen die Kinder auch über Drogenkonsum ihrer Eltern berichtet haben. "Die waren immer mit ihrem Sex beschäftigt", sogar vor den Augen der Kinder, das soll die älteste Tochter ausgesagt haben. Um ihren verletzten Sohn, der stundenlang geweint und gebrüllt haben soll, schienen sie sich kaum zu kümmern. Als er in die Klinik kam, stellten die Ärzte "einen signifikanten Flüssigkeitsverlust" fest.

Die Verteidiger der Eltern bezweifelten am Mittwoch, dass die Aussagen der Kinder vor Gericht verwertbar sind. Sie glauben, dass die Ermittler die Kinder nicht ordnungsgemäß darüber belehrten, dass sie eine Aussage auch verweigern können. Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.

© SZ vom 26.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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