Prozess in Augsburg:Die dunkle Seite des Doktor S.

Missbrauchsprozess gegen Kinderarzt

Der 40 Jahre alte Angeklagte muss sich vor dem Gericht in Augsburg detaillierte Ausführungen über seine Psyche anhören.

(Foto: Josef Hildenbrand/dpa)
  • Harry S. muss sich wegen sexuellen Missbrauchs von 21 Kindern vor Gericht verantworten.
  • Der ehemalige Kinderarzt hat die Taten gestanden.
  • Mit den Einschätzungen von Gutachtern soll geklärt werden, ob S. nach der Haft in Sicherheitsverwahrung muss.

Von Stefan Mayr

Von der ersten bis zur letzten Minute beißt Harry S. an diesem Prozesstag auf seinen Lippen herum. Als hätte er eine Nuss zwischen den Zähnen, die er knacken will. Besonders wild arbeitet sein Kiefer, als die psychiatrischen Sachverständigen Ralph-Michael Schulte und Günther Lauber ihre Gutachten vortragen. Kein Wunder, denn von diesen Aussagen hängt ab, ob Harry S. jemals wieder auf freien Fuß kommen wird oder nicht.

Der ehemalige Kinderarzt muss sich vor dem Landgericht Augsburg wegen sexuellen Missbrauchs von 21 Kindern verantworten. Gleich am ersten Prozesstag im November hat er gestanden, dass er sich an den Buben vergangen hat. Seitdem steht fest, dass S. bis zu 15 Jahre lang in Haft muss. In dieser Sitzung am Dienstag wird nun erörtert, ob er nach der Haft zusätzlich in Sicherungsverwahrung muss oder nicht.

Stuft ihn das Gericht als so gefährlich ein, dass er auf unbestimmte Zeit weggesperrt werden muss? Harry S. hört sich mit heftig arbeitendem Kiefer an, wie Gutachter Schulte ihm eine "schwere seelische Abartigkeit" attestieren. Die Prognose sei "sehr ungünstig", seine Pädophilie sei "sehr schwer zu behandeln - wenn überhaupt".

"Er hat einfach kein Interesse an Frauen"

Schulte und sein Kollege Lauber sind sich einig, dass sich Harry S. ausschließlich zu Kindern hingezogen fühle. 80 Prozent der straffälligen Pädophilen missbrauchen Kinder quasi als Ersatz, weil sie bei Frauen keinen Erfolg haben. Bei Harry S. ist das anders: Er hätte durchaus Chancen bei Frauen, er hatte Angebote und auch Beziehungen. Doch zum Sex kam es nie. "Er hat einfach kein Interesse an Frauen", sagen Schulte und Lauber.

Die Gutachter geben einen tiefen Einblick in die Seele des Angeklagten. Sie bezeichnen ihn als "sehr, sehr krank" und in seiner Steuerungsfähigkeit "erheblich beeinträchtigt". All diese intimen Details hört sicherlich niemand gerne über sich in einem vollbesetzten Gerichtssaal. Entsprechend massiv bearbeitet S. seine Lippen. Doch ganz schlecht läuft es für ihn nicht. Denn die Experten lassen ihm ein Hintertürchen offen: Seine Krankheit sei zwar sehr schwer therapierbar, sagen sie. Aber sie schließen eine Heilung nicht aus.

Dieser Befund ist, wenn sich das Gericht anschließt, eine gute Nachricht für Harry S.: Er kann sich damit Hoffnungen machen, nach der Haft ein neues Leben als freier Mensch anfangen zu können. Hierauf arbeiten seine Verteidiger hin, hierfür hat er viel getan: Er hat seinen Opfern insgesamt 25 000 Euro Wiedergutmachung gezahlt, er hat sich bei den betroffenen Familien entschuldigt, er hat in Untersuchungshaft eine Therapie begonnen.

Er betäubte seine Opfer in der Nacht

Bei seinen Taten ging der 40-Jährige weniger zuvorkommend vor: Manchen Buben lauerte er auf der Straße auf, um sie in Keller oder Tiefgaragen zu locken. Zudem organisierte er im Namen des Roten Kreuzes Ausflüge, bei denen er Kinder missbrauchte. Und er verging sich an den Söhnen zweier seiner Freundinnen, ohne dass die Frauen und Kinder etwas mitbekamen. Der Arzt betäubte seine Opfer in der Nacht und verging sich an ihnen.

Harry S. ist zweifellos ein gefährlicher Straftäter, der vielen Familien großes Leid zugefügt hat. Viele Buben leiden bis heute unter den Vorfällen. Doch Harry S. ist auch selbst ein tragischer Fall. Gutachter Schulte spricht von einer gespaltenen Persönlichkeit. Hier der erfolgreiche Arzt mit Intelligenzquotient 134, der einen viel beachteten Aufsatz in der Fachzeitschrift Medical Tribune veröffentlichte.

Der bei Vorgesetzten und Pflegepersonal beliebt und anerkannt war, sowohl fachlich als auch menschlich. Der "bis an die Belastungsgrenze" arbeitete und auch in der Freizeit ehrenamtlich als Notarzt beim Roten Kreuz tätig war. "Mit diesem Überengagement wollte er wohl das wiedergutmachen, was er anderen Kindern angetan hat", vermutet Schulte.

"Da stehen zwei Persönlichkeiten nebeneinander"

Bei der Arbeit in den Kinderkliniken in Augsburg, München und Hannover hatte sich S. stets im Griff, laut Polizei gab es keinerlei Übergriffe. Der Richter kann das kaum glauben und fragt nach: "Wie geht das zusammen bei einem, der ansonsten die Finger nicht von Kindern lassen kann?" Schulte sagt: "Das geht. Das ist nicht außergewöhnlich." Die Arbeit sei für S. "der einzige Halt" gewesen. Schulte: "Da stehen zwei Persönlichkeiten nebeneinander - der Schwerstpädophile und der perfekt arbeitende Facharzt."

Der erfolgreiche Kinderarzt und seine dunkle Seite. Diese Seite blieb jahrelang von allen Kollegen, Freunden und Verwandten unentdeckt. Bis seine Übergriffe immer massiver wurden und die Polizei ihm auf die Schliche kam.

Am Freitag berichtet noch der medizinische Gerichtsgutachter über die Schuldfähigkeit des Angeklagten. Auch davon hängt ab, ob Harry S. in Sicherungsverwahrung muss oder nicht. Das Urteil soll im März gefällt werden.

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