Prozess:Fall Ursula Herrmann: Die Suche nach der Wahrheit geht weiter

Entführungsfall Ursula Herrmann wieder vor Gericht

Ursula Herrmanns Fahndungsfoto von vor 35 Jahren.

(Foto: Landeskriminalamt Bayern/dpa)
  • Vor fast 35 Jahren wurde Ursula Herrmann entführt und in eine vergrabene Holzkiste gesperrt, in der das Mädchen erstickte.
  • 27 Jahre später wird ein mutmaßlicher Täter identifiziert, der beteuert seine Unschuld, wird jedoch für die Tat verurteilt.
  • Ihr Bruder hatte Zweifel an der Schuld des Angeklagten, hat ihn aber jetzt verklagt.

Von Hans Holzhaider

Das Verbrechen, das Deutschland erschütterte, liegt nun fast 35 Jahre zurück. Am 15. September 1981 kam die zehnjährige Ursula Herrmann aus Eching am Ammersee nach einer Turnstunde nicht nach Hause zurück. In zwei Briefen, die aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt waren, forderten der oder die Entführer ein Lösegeld von zwei Millionen Mark.

Bei Ursulas Familie gingen in den Tagen nach der Entführung zehn Anrufe ein, bei denen nichts zu hören war außer Schaltgeräuschen und der Erkennungsmelodie des Radiosenders Bayern 3. Am 4. Oktober, 19 Tage nach der Entführung, entdeckten Polizisten in einem Waldstück bei Eching eine im Boden vergrabene, mannshohe Kiste. Darin saß das tote Mädchen. Ursula war, wie die Gerichtsmediziner feststellten, infolge von Sauerstoffmangel erstickt.

Der Fall Ursula Herrmann wurde zum Albtraum, nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die Polizei. Trotz jahrelanger, intensiver Ermittlungen wurden die Täter nicht gefunden. Dann, 27 Jahre später, die Sensation: Die Augsburger Staatsanwaltschaft präsentierte einen Tatverdächtigen: Werner Mazurek, 58 Jahre alt.

Als Ursula entführt wurde, hatte er gerade wegen hoher Schulden seine Elektrowerkstatt in Utting am Ammersee verkaufen müssen. Jetzt lebte er in Schleswig-Holstein. Ein altes Grundig-Tonbandgerät, das in seiner Wohnung gefunden wurde, sollte ihn als Täter überführen.

Wenn man das Bayern-3-Signal, die Tonfolge C-F-F-A-A-C-A, mit diesem Gerät aufnahm, ergab sich bei der Wiedergabe eine signifikante Veränderung in der Lautstärke des höchsten Tons, so, wie man sie bei den Erpresseranrufen registriert hatte.

Am 19. Februar 2009 begann vor dem Landgericht Augsburg der Prozess gegen Mazurek. Wortreich beteuerte der Angeklagte seine Unschuld. Nach 55 Verhandlungstagen und der Vernehmung von 197 Zeugen verkündete der Vorsitzende Richter Wolfgang Rothermel das Urteil: lebenslange Haft wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge. Die Revision wurde abgewiesen, das Urteil ist rechtskräftig.

Für Michael Herrmann, Ursulas Bruder, ist der Fall trotzdem nicht abgeschlossen. Er war 17, als seine kleine Schwester entführt wurde. Heute ist er 52, Lehrer für Musik und katholische Religionslehre an einer Realschule, und noch immer lässt ihm die Frage, wer die Schuld für Ursulas Tod trägt, keine Ruhe. Die Familie hatte sich schon damit abgefunden, dass man den oder die Täter nicht mehr finden würde.

Die Eltern und der Bruder mussten ja weiterleben, irgendwann hatten sie ihren Frieden gemacht mit der Einsicht, dass es keine Aufklärung mehr geben würde. Und dann, nach 27 Jahren, der Schock: Die Staatsanwaltschaft präsentiert einen mutmaßlichen Täter. Und mit dem Schock kamen die Zweifel: Wie soll das möglich sein, nach so vielen Jahren einen Tatnachweis zu führen? Ohne einen wirklichen Beweis?

Ein Geständnis, das noch am gleichen Tag widerrufen wurde

Es gab nur dieses ominöse Tonbandgerät, und es gab die Aussage eines Zeugen, der seit vielen Jahren tot ist, und dessen Aussage mit vielen Zweifeln behaftet ist: Klaus Pfaffinger, der gestanden hat, er habe im Auftrag Mazureks das Loch gegraben, in dem später die Kiste mit dem Mädchen versenkt wurde - und der dieses Geständnis noch am selben Tag widerrief.

Michael Herrmann hatte schon während des Prozesses gegen Werner Mazurek Zweifel, ob da wirklich der Richtige auf der Anklagebank saß. Herrmann ist Musiker, er kennt sich aus mit Tontechnik, er hielt es für außerordentlich problematisch, ein 30 Jahre altes Tonbandgerät als Beweismittel zu akzeptieren. Wer konnte garantieren, dass es nicht noch andere Geräte mit ähnlichen Eigenschaften gab?

Vielleicht war das vermeintliche Bayern-3-Signal ja gar nicht die originale Tonfolge, sondern eine selbst produzierte? Noch während des Prozesses schrieb Michael Herrmann einen Brief an den Vorsitzenden Richter, in dem er seine Zweifel äußerte. "Wir haben uns keine Überzeugung gebildet, weder für noch gegen die Schuld des Angeklagten", sagte er nach der Urteilsverkündung.

"Eventuell helfe ich ihm raus, obwohl er schuldig ist"

Der Stress, die Unsicherheit, die Zweifel, die der Prozess gegen Mazurek für Herrmann mit sich brachte, hatten Folgen. Im März war das Urteil verkündet worden, im September bekam Herrmann einen Tinnitus. Nicht irgendein zartes Piepsen, sondern ein massives Pfeifen, so stark, dass es ihn nachts nicht mehr durchschlafen lässt.

Eine typische Stressreaktion, urteilte der Arzt. Mittlerweile hat ein Gerichtspsychiater bestätigt, dass der Tinnitus mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Folge des psychischen Drucks ist, dem Herrmann durch den Prozess ausgesetzt war. Jetzt sah Herrmann einen Weg, die Täterschaft Mazureks noch einmal von einem Gericht überprüfen zu lasen: Das Strafurteil ist zwar nicht mehr anfechtbar, aber in einem Zivilverfahren könnte das Gericht, wenn es Herrmanns Zweifel teilt, noch einmal eine Beweisaufnahme durchführen.

2013 reichte Herrmann eine Zivilklage ein. Er fordert 20 000 Euro Schmerzensgeld von Werner Mazurek. Drei Jahre dauerte es, bis an diesem Donnerstag in Augsburg der erste Termin in der Sache Michael Herrmann gegen Werner Mazurek stattfindet. "Ich muss gegen ihn klagen", sagt Herrmann, "obwohl ich nicht von seiner Schuld überzeugt bin." Pause. "Aber ich bin auch nicht von seiner Unschuld überzeugt."

Verblüffend genaue Kenntnisse von Kiste und Loch

Tatsächlich hatte sich das Augsburger Gericht seine Urteilsfindung nicht leicht gemacht. Es gab viele gute Gründe, Mazurek für den Schuldigen zu halten. Er hatte behauptet, das alte Tonbandgerät erst kurz bevor es bei ihm gefunden wurde auf einem Flohmarkt gekauft zu haben. Das Gericht hörte sämtliche Verkäufer des Flohmarkts als Zeugen - keiner konnte sich an ein solches Gerät erinnern.

Und was für ein Zufall sollte es sein, dass ausgerechnet Mazurek, der schon kurz nach der Tat zu den Hauptverdächtigen zählte, im Besitz eines Geräts war, das so auffällige Eigenschaften aufwies? Die Aussage Pfaffingers: Er hatte sie widerrufen, aber welches Motiv hätte er denn gehabt, Mazurek zu beschuldigen?

Zeugen hatten ihn vor der Entführung beobachtet, wie er mit dem Spaten unterwegs war. Er hatte verblüffend genaue Kenntnisse von der Größe und der Tiefe des Loches, von der Bodenbeschaffenheit, vom Aussehen der Kiste.

"Lässt sich alles erklären", sagt Walter Rubach, Rechtsanwalt in Augsburg. Er hat Werner Mazurek verteidigt, und er vertritt ihn immer noch. Er hat akribisch alles durchforstet, was damals über die Entführung Ursula Herrmanns in der Zeitung stand, und er ist überzeugt: "Alles, was Pfaffinger der Polizei erzählt hat, konnte er vorher haarklein in der Zeitung gelesen haben."

Rubach hat ein Gutachten in Auftrag gegeben zu der Frage, ob es sich bei dem Geständnis Pfaffingers um ein falsches Geständnis handeln könnte. Die Berliner Rechtspsychologin Renate Volbert kommt zu dem Ergebnis: Es könnte sein. Aber es könnte auch nicht sein. Wirklich wissen kann man es nicht.

Die Überprüfung der Glaubwürdigkeit eines schon vor Jahren verstorbenen Zeugen ist eine Sache, bei der die Wissenschaft schnell an die Grenzen der Seriosität stößt. Volbert nennt ihre Expertise deshalb auch vorsichtig "psychologische Stellungnahme".

Wie das Gericht mit der Schmerzensgeldklage Herrmanns umgehen wird - beim ersten Termin am Donnerstag wird man es wohl noch nicht erfahren. Es ist ein "Gütetermin"; da lotet das Gericht aus, ob die Parteien zu einem Vergleich bereit sind. Das wird in diesem Fall vergebens sein - Mazurek ist an dem Verfahren mindestens so interessiert wie Michael Herrmann. Es ist seine letzte Chance. Und Herrmann ist sich bewusst, dass er auf schwankendem Boden steht. "Eventuell", sagt er, "helfe ich ihm raus, obwohl er schuldig ist."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: