Süddeutsche Zeitung

Prozess:Das Bahnunglück war kein "Augenblickversagen"

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Von Annette Ramelsberger

Der Fahrdienstleiter, der sich während der Dienstzeit mit einem Handyspiel die Zeit vertrieb und dadurch den Zugunfall von Bad Aibling verursachte, muss für drei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis. Das Gericht verurteilte ihn wegen fahrlässiger Tötung an zwölf Menschen und fahrlässiger Körperverletzung in 85 Fällen.

Die Richter blieben mit ihrem Urteil nur ein halbes Jahr unter der Forderung des Staatsanwalts, der vier Jahre Freiheitsstrafe gefordert hatte. Die Verteidigung hatte auf eine Bewährungsstrafe plädiert. Der Fahrdienstleiter Michael P. hatte am 9. Februar zwei Züge auf eine eingleisige Strecke geschickt, die dort um 6.47 Uhr bei Bad Aibling zusammenstießen. Dabei wurden zwölf Menschen getötet, über 80 zum Teil schwer verletzt. Auch viele Helfer sind schwer traumatisiert.

"Zwölf Menschen haben ihr Leben lassen müssen, Männer im besten Alter, die am Faschingsdienstag pflichtbewusst zur Arbeit gegangen und nicht mehr nach Hause gekommen sind", hebt der Vorsitzende Richter Erich Fuchs an. Er schaut den Angeklagten immer wieder an, sucht seinen Blick - doch der schaut wie abwesend ins Leere. "Der Angeklagte kann zu seiner Familie zurückkehren, die Opfer nicht, und die Verletzten werden ihr Leben lang unter den Folgen zu leiden haben." Ein junger Mann sitzt in der zweiten Reihe, mühsam stützt er sich auf seine Krücken. Ihm wurden bei dem Unfall die Beine vielfach gebrochen. Es ist nicht klar, ob er je wieder ohne Hilfe gehen kann. Eine junge Frau aus Indien sitzt ganz außen, eine Freundin streichelt ihr den Rücken. Ihr Mann ist bei dem Unfall gestorben, nun ist sie allein mit ihren zwei kleinen Kindern.

Das Bahnunglück war kein "Augenblickversagen"

Schuld daran ist der Mann auf der Anklagebank. Und nur er. So sieht es das Gericht: Nicht die Bahn, die viele Nebenkläger in Verantwortung sehen wollen, nicht die technischen Mängel im Stellwerk, nicht die verwirrenden Vorschriften. Sondern nur dieser eine Mann. 40 Jahre alt, seit 20 Jahren bei der Bahn, unbescholten all die Jahre. Auch er ist Familienvater.

Der Richter wird sehr deutlich. "Der Angeklagte ist kein schlechter Mensch, kein Krimineller. Er ist auch selbst Opfer, aber er ist in erster Linie Opfer seiner Spielleidenschaft geworden", sagt Richter Fuchs. Im Fall des Bahnunglücks von Bad Aibling handele es sich nicht um ein "Augenblicksversagen" des Verantwortlichen, nicht um ein kurzes Versehen. Es sei auch kein kleiner Fehler gewesen. Hier gehe es um eine ganze Reihe von "unerklärlichen, unverständlichen, regelwidrigen Handlungen". Das könne nur einen einzigen Grund haben: das Computerspiel, das der Angeklagte intensiv spielte.

Nicht nur am Tag des Unglücks, aber vor allem an diesem Tag: Laut Gericht war er am 9. Februar 70 Prozent seiner Arbeitszeit mit dem Handyspiel beschäftigt. Von Anfang Januar bis zu diesem 9. Februar spielte er immer öfter und immer länger. Das hatte ein Gutachter herausgefunden. "Die Reisenden waren in dem gesamten Zeitraum einem großen Risiko ausgesetzt", erklärte der Richter. Das sei eine "Fahrlässigkeit höheren Grades", deswegen habe die Strafe auch über dem Durchschnitt des Strafrahmens von fünf Jahren liegen müssen. Es sei reines Glück, dass am Faschingsdienstag weniger Fahrgäste im Zug waren und deswegen nicht noch mehr Opfer zu beklagen seien.

Der Mann hätte seinen Fehler sehen müssen, urteilt das Gericht

Das Gericht hielt dem Angeklagten zugute, dass er von Anfang an zu seiner Tat und seiner Verantwortung gestanden habe. "Er hat sich entschuldigt, er ist selbst tief erschüttert, das Geschehen wir ihn ein Leben lang nicht mehr loslassen", sagte Richter Fuchs. Er und seine Familie gingen einer unsicheren Zukunft entgegen. Bei der Bahn wird er nicht weiterarbeiten. Wie es nach der Haft mit ihm weitergeht, ist angesichts der hohen finanziellen Forderungen der Nebenkläger ungewiss.

Dennoch bleibt: Der Mann hat gegen jede Vorschrift intensiv mit seinem Handy gespielt. Ohne dieses Spiel hätte er ohne weiteres sehen können, dass die Technik ihn von einem folgenschweren Fehler abhalten wollte. Er setzte sich darüber hinweg. "Er hätte das an fünf oder sechs Stellen sehen müssen", sagte der Richter. Auch den Notruf, den er am Ende noch falsch bediente, hätte er beherrschen müssen. "Das ist geübt worden", sagt der Richter.

Und, besonders wichtig für das Gericht: "Ich will schon darauf hinweisen, dass er den Notruf auch noch früher hätte absetzen können", sagte Fuchs. "Er fand noch Zeit, vor dem Notruf sein Spiel ordnungsgemäß zu beenden." Gerade das ist für das Gericht besonders tragisch. Hätte der Angeklagte den Notruf richtig abgesetzt, hätte der Zusammenstoß trotz all seiner Fehler verhindert werden können. Am Ende humpelt der junge Mann wortlos hinaus. Die junge Witwe huscht aus dem Saal, ihre Freundin stützt sie.

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