Protestkultur:So tickte die Jugend in Bayern früher

Dagegen waren Jugendliche auch schon in den 70er, 80er und 90er-Jahren. Rebellion gehört zum Erwachsenwerden, nur der Gegner änderte sich

Die 70er-Jahre: Moped und Russenangst

Protestkultur: Hans Kratzer im Jahr 1975.

Hans Kratzer im Jahr 1975.

(Foto: Privat)

Auf dem Land entfachte "der Russ" in den frühen 70er Jahren pausenlos Ängste, erst recht nach seinem Einmarsch in Prag anno 1968. Meine Oma weinte jedes Mal, wenn vom Russ die Rede war, sie fürchtete ihn mehr als den Tod. Auch uns Dorfjugendlichen war der Russ suspekt, aber nicht nur er, in unserem Kosmos prallten viele Welten aufeinander. Hier die oft noch abergläubisch geprägte Welt der Bauernhöfe, dort das langsame Wanken des vertrauten Weltbilds. In den Wirtshäusern wurde angesichts des Wandels grob geklotzt. "A kloana Hitler wär scho recht", tönte mancher Bierdimpfl, wenn ihn die Sorge plagte, Werte wie Fleiß und Gottesfurcht könnten im Sog der aufs Land ausgreifenden 68er Schaden leiden.

Nun wurden auch die Dorfkinder aufs Gymnasium geschickt, Rock- und Discoschuppen schossen aus dem Boden, und die Pfarrer wetterten gegen die wachsende Zügellosigkeit. Wir Jugendlichen maßen der Politik weniger Gewicht bei als dem Moped und dem Fußball, auch wenn wir mit Plagen wie Vietnamkrieg und Ölkrise die Vorboten einer ungemütlichen Zukunft durchaus wahrnahmen. Dass einer wie der verehrte Fußballer Paul Breitner mit der Mao-Bibel posierte, bewirkte bei uns keinen Linksruck. Als "Aktivisten" der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend vor der Schule marxistische Propagandablätter verteilten, sahen wir, dass das mit Direktoratsverweisen belohnt wurde. Orientierungslos, aber freiheitssüchtig bewegten wir uns weiterhin im Kräftefeld von Maiandacht, Marxismus und Moped. In ihrer extremen Spreizung kommt mir unsere 70er-Jahre-Jugend heute noch exotisch vor. Hans Kratzer

Die 80er-Jahre: Ministrant und Revoluzzer

Protestkultur: Sebastian Beck im Jahr 1982.

Sebastian Beck im Jahr 1982.

(Foto: Privat)

Wer 1982 cool sein wollte, der ging entweder zu den Grünen oder marschierte in der Friedensbewegung mit. Die Junge Union war uncool. Ich war eher halbcool, weil ich als Landei auch noch Ministrant war und BMWs fuhr. Auch wenn sich heute alle über Vokuhila-Frisuren lustig machen: Das Lebensgefühl der Jugend in den Achtzigern wurde in erster Linie von vermeintlichen und echten Bedrohungen geprägt. Wettrüsten, Waldsterben, Atomkraft, die Debatte über Katalysatoren - all das befeuerte damals die Politisierung. Die Alten? Allesamt Nazi-Säcke.

Der Generation Ü50 kommt einiges von dem, was heute wieder diskutiert wird, bis hin zur Wortwahl sehr bekannt vor. Und auch damals versuchten wir den Protest in die Schulen hineinzutragen: Für unsere Aktionen kassierten wir Verweise, die wir als Auszeichnung empfanden. Die Öko- und Friedensbewegung glich einem bunten Haufen: Pax Christi, Jusos, Grüne, Spinner und rechte Naturmystiker. Marxisten - die gab es damals auch noch - hielten den Grünen vor, sie seien verzogene Wohlstandskinder, die erst mal das Arbeiten lernen sollten. Die Grünen sahen sich selbst als moralisch haushoch überlegen, die Jusos waren deprimiert. In den Versammlungen wurde über Rauchverbot, Cannabis, Asylpolitik, Nahverkehr, begrünte Städte, Öko-Landbau und Abrüstung diskutiert.

Hat sich also überhaupt nichts geändert? Doch: Aus Sicht eines 17-Jährigen lag Leipzig damals weiter entfernt als der Mond. Wiedervereinigung? Unvorstellbar! Und was ist aus der Apokalypse geworden? Sie wurde verschoben oder abgesagt, wer weiß das schon. Sebastian Beck

Die 90er-Jahre: Freibad statt Politik

Protestkultur: Katja Auer im Jahr 1994.

Katja Auer im Jahr 1994.

(Foto: Privat)

Die großen Fragen einer 90er-Jahre-Jugend in einem Dorf in der Oberpfalz waren maximal unpolitisch: Wie lassen sich die zehn Kilometer zu den Partys in die zehn Kilometer entfernte Kreisstadt bewältigen, wenn der Bus nur zweimal am Tag fährt? Wer übernimmt welche Schicht in der Pilsbar beim Feuerwehrfest? Und wer hat die Mathe-Hausaufgaben gemacht?

Die großen Konflikte der jüngsten Zeit waren scheinbar vorbei in den Neunzigerjahren, Wackersdorf war abgeblasen, die Mauer gefallen, der Kalte Krieg vorbei. Von persönlicher Klimabilanz war noch keine Rede, die immerhin wäre gut ausgefallen: Gemüse aus dem Garten, Urlaub am Chiemsee, Klamotten wurden durch die ganze Verwandtschaft vererbt. Wogegen hätten wir rebellieren, wofür protestieren sollen? Die größte politische Umwälzung war die Einführung der fünfstelligen Postleitzahlen, und wer es den Eltern mal richtig zeigen wollte, der blieb sonntags im Bett anstatt in die Kirche zu gehen.

In die Freundschaftsalben jener Zeit schrieben wir in die Rubrik "Das mag ich gar nicht": Krieg, Nazis, Rosenkohl. Wir fanden Krieg natürlich blöd, weil man Krieg eben blöd fand, ohne das Ausmaß des Jugoslawien-Kriegs annähernd zu begreifen. Wir waren selbstverständlich gegen Nazis, weil alle gegen Nazis waren, und gingen doch nicht auf die Straße, als in Solingen und Hoyerswerda Asylbewerberunterkünfte brannten. Das mag an der Gegend gelegen haben, beschaulich kann man sagen, oder auch ein bisschen ab vom Schuss. Es kann aber auch an uns gelegen haben. Wir waren nicht politisch. Wir waren lieber im Freibad. Katja Auer

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: