Probleme einer Mittelschule:Sorgenschule in der Provinz

Lernschwache Kinder aus Familien, in denen grundlegende Dinge nicht funktionieren, sollen hier einen Abschluss machen: Die Weinbergerschule ist keine Brennpunktschule in Berlin, sondern befindet sich im oberpfälzischen Neumarkt. Doch das Hauptproblem der Pädagogen sind nicht die Kinder.

Tina Baier

11.30 Uhr, Mittelschule an der Weinbergerstraße in Neumarkt: Die Schüler der Praxisklasse sollen Fragen zu einem Text beantworten, den Harald Dürr, ihr Lehrer, gerade verteilt hat.

In der Klasse sitzen 14- bis 16-jährige Jugendliche, die in einer normalen Mittelschulklasse keine Chance hätten. Viele von ihnen gelten als notorische Schulschwänzer, fast alle haben Konzentrationsschwierigkeiten, manche können immer noch nicht richtig lesen und schreiben. Dürrs Ziel: Möglichst viele sollen den Hauptschulabschluss schaffen. Die Erfolgsquote ist hoch: Vergangenes Jahr haben acht von 13 Schülern schließlich ihren Abschluss gemacht.

Bis es soweit ist, liegt noch ein hartes Stück Arbeit vor Dürr und seinen Schülern. In dem Text geht es um eine gestohlene Brosche. "Viele Schüler wussten gar nicht, was eine Brosche ist", sagt Dürr.

Markus (Namen aller Schüler geändert) schreibt wie wild, aber fast alles ist unleserlich. Josef sitzt schon seit zehn Minuten da und starrt auf acht Zeilen, in denen er vier Wörter finden soll, die im Ausgangstext nicht vorkommen. Bei einer Frage sollen die Jugendlichen ankreuzen, was es bedeutet, wenn "jemand etwas auf dem Kerbholz hat". Maja hat als Antwort angekreuzt: "Er ist ein schlauer Junge". Konrad sieht extrem schlecht, weigert sich aber, seine Brille aufzusetzen.

Mit Engelsgeduld erinnert Dürr ihn immer wieder daran. Inzwischen behält er die Brille in der Schule, weil sie sonst innerhalb kürzester Zeit verschwunden ist und die Eltern es ohnehin nicht schaffen, ihren Sohn dazu zu bewegen, sie aufzusetzen.

Ein wackeliges Erfolgsmodell

505 Schüler aus 23 Nationen besuchen die Weinbergerschule in der oberpfälzischen Stadt. Es ist eine normale Mittelschule mit M-Zweig und Ganztagsklassen, wie sie von Kultusminister Ludwig Spaenle gerne als "Erfolgsmodell" gepriesen wird.

Sie ist auch keine Brennpunktschule in einem berüchtigten Großstadtviertel. Die Lehrer sind hoch engagiert und unterstützen sich gegenseitig. Die Schule ist für ihre gute Arbeit schon mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Trotzdem haben die Lehrer immer öfter das Gefühl, auf verlorenem Posten zu kämpfen.

"Das Hauptproblem sind nicht die Schüler, sondern die Eltern", sagt Petra Zeitler, die Rektorin. Natürlich gebe es auch engagierte Eltern, die ihre Kinder unterstützten, aber viele seien derart mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie dazu gar nicht in der Lage seien.

Anderen sei schlicht egal, ob ihre Kinder einen Schulabschluss haben oder nicht. In Neumarkt kämpft das ganze Team gegen diese Gleichgültigkeit an, die sich von den Eltern auf die Kinder überträgt.

In den Familien funktionieren grundlegende Dinge nicht mehr

Zum Beispiel Gabriele Graeve, die seit Jahren ehrenamtlich an die Schule kommt, um mit einzelnen Schülern Deutsch zu üben: "Mehmet, was hast du gestern gemacht?" Mehmet: "Wir waren Metall." Graeve: "Hat dir das Spaß gemacht?" Mehmet: "Nein. Das war anstrengend". Graeve: "Was habt ihr denn gemacht?" Mehmet: "Einen Würfel". Graeve: "Bringst du den mal mit?" Mehmet: "Hab ich weggeschmissen." Graeve: "Warum denn?" Mehmet: "Braucht eh niemand."

"Es ist eine einfache Rechnung", sagt Petra Zeitler: "Die Kinder, bei denen die Elternhäuser in Ordnung sind, kommen auf den M-Zug." Dort haben sie die Möglichkeit, nach der neunten Klasse noch ein Jahr dranzuhängen und anschließend den so genannten M-Abschluss zu machen, der in etwa dem Realschulabschluss entspricht.

Petra Zeitler hat schon einiges erlebt; trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen sie darüber erschrickt, mit welchen Problemen sich manche ihrer Schüler herumschlagen müssen. Wie neulich, als plötzlich eine Mutter weinend im Sekretariat stand: Ihr Mann sei mit dem Messer auf sie losgegangen, sie wisse nicht, wohin. Ob sie ihr nicht helfen könne. In der Nacht hatte der spielsüchtige Vater auf der Suche nach Geld die Schulsachen der Kinder durchwühlt und ihre Sparschweine geplündert.

Dass schon morgens um sieben Uhr jeden Tag mindestens zehn Kinder da sind, weil sie nicht wissen, wo sie sonst hin sollen, ist dagegen Alltag in Neumarkt. "Ich bin für manche meiner Schüler eine Art Mutter-Ersatz", sagt Bettina Herre. Ihr Kollege Richard Rupp vergleicht sich eher mit einem Hausarzt, der für Probleme aller Art zuständig ist.

Grundlegendes funktioniert in manchen Familien nicht mehr

Offenbar nimmt die Zahl der Familien zu, in denen die grundlegenden Dinge nicht mehr funktionieren. Herre beispielsweise hat vergangenes Schuljahr viel Zeit und Energie investiert, um eine Schülerin dazu zu bringen, sich zu waschen. Ein Kollege ging mit einem Jungen, der noch im November mit Stoffschuhen und Sommerjacke herumlief, Stiefel und Winterjacke kaufen.

Fragt man die Lehrer in Neumarkt, was sie bräuchten, um die Situation ihrer Schüler zu verbessern, bekommt man unisono immer wieder die selbe Antwort: "mehr Lehrer", "einen zweiten Lehrer in der Klasse". Kultusminister Spaenle betont immer wieder, dass in Bayern kein Schüler verloren gehen darf.

Doch allein ein Blick auf die Liste einer fünften Klasse in Neumarkt genügt, um zu begreifen, dass das unter den jetzigen Bedingungen, bei denen ein einziger Lehrer oft für mehr als 20 Schüler zuständig ist, gar nicht gelingen kann: 25 Kinder sind in der Klasse, zehn von ihnen gelten als Problemfälle; zwei Kinder sind zum Beispiel aggressiv, bei dreien steht der Vermerk "wirkt verwahrlost", ein Kind hat schwere psychische Probleme, bei einem ist die Mutter polizeibekannt und lebt auf der Straße, ein anderes hat vier kleinere Geschwister, auf die es regelmäßig aufpasst, und einen spielsüchtigen Vater. Sechs haben eine Lese-Rechtschreibschwäche.

In Neumarkt werden sie um jedes dieser wohlgemerkt erst zehnjährigen Kinder kämpfen. Doch wenn der Staat diesen Kampf nicht besser mit Geld und mehr Lehrern unterstützt, befürchten sie, werden viele von ihnen verloren gehen.

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