Der Mann mit dem Ziegenbart redet sich in Rage, seine zackigen Ansagen hallen durch den Saal. Neben ihm sitzt ein Jugendlicher, hängende Schultern, er wurde von seinem Vater aus dem Haus geworfen - weil seine Freundin Deutsche ist. Der Bekannte, bei dem er nun Rat sucht, geifert: "Bruder, siehst du, was passiert, wenn du nicht in die Moschee gehst? Du hast Angst vor deinem Vater? Du solltest Allah fürchten!" Es geht weiter, Widerspruch unerwünscht: "Wir heiraten muslimische Frauen, diese Frauen tun uns gut." Oder: "Du bist jetzt mit 180 Stundenkilometern in Richtung Hölle unterwegs!" Es sind Rollenspiele, die diese Lautstärke verursachen, in einem Raum, der sonst ein Ort der Stille ist: die Gefangenenbibliothek der Justizvollzugsanstalt im oberfränkischen Ebrach.
Das Team des Psychologen und Islamismus-Experten Ahmad Mansour bespricht sich, sie gehen Übungen durch. In der JVA sind sie im staatlichen Auftrag tätig. "Restart - Freiheit beginnt im Kopf" heißt ihr Programm zur Radikalisierungsprävention für junge Häftlinge. Es soll jene, die leicht beeinflussbar sind, zum Nachdenken bringen, sie mündiger machen. Oder, wie Mansour sagt: "Unser Ziel ist, schneller zu sein als die radikalen Islamisten." Radikale in der JVA. Ausgerechnet dort, wo man sich ja eigentlich bessern sollte.
Verfassungsschützer erkennen eine Art Rückzug von Islamisten und Salafisten aus dem öffentlichen Raum, auch aus Moscheen. Hin zur Missionierung in kleinen Strukturen - im Netz, mit "Wohnzimmerradikalisierung", Propaganda auf Schulhöfen oder in Fitnessstudios; auch Gefängnisse als "potenzielle Radikalisierungs- und Rekrutierungsorte" gehören dazu, wie es im Verfassungsschutzbericht 2018 heißt. Im Knast treffen Radikale auf haltlose junge Leute, auf engstem Raum. Beste Bedingungen für eine Radikalisierung: Jemand sucht Anschluss, Selbstvertrauen, Verhaltensregeln, Struktur im Leben - und erhält genau das. Und mehr: eine Projektionsfläche für Wut und das Gefühl, einer Elite anzugehören. "Islamisten sind gut in der Lage, persönliche Krisen zu sehen und auszunutzen", sagt Ahmad Mansour. "Und was, wenn nicht eine Haft, ist eine Krise."
Von Gefängnissen als "Brutstätten" für gewaltbereiten Extremismus warnen viele Fachleute. Genannt wird Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. Er soll sich in Italien hinter Gittern radikalisiert haben, zuvor lediglich als Kleinkrimineller gegolten haben. Derzeit sind in Bayern 65 Personen inhaftiert, die diesbezüglich unter Beobachtung der Behörden stehen. Bei gut der Hälfte liegen konkrete islamistische oder terroristische Bezüge vor, elf sind wegen Vorbereitung staatsgefährdender Straftaten oder Ähnlichem aktenkundig. Die andere Hälfte wurde mit verdächtigem Verhalten in der JVA auffällig.
Es geht keineswegs nur um die Radikalen, warnt Mansour, die könne man von anderen trennen. Religion sei "kein Problem, solange sie Religion bleibt". Sie könne aber schleichend immer problematischere Züge annehmen: Bis zur These, man sei nicht wegen einer Straftat in Haft, sondern weil man Moslem ist, weil einen "die Ungläubigen" strafen. Und dann müsse nur einer da sein, der sage: "Stimmt, Bruder!" Derlei laufe unter dem Radar, das bekämen Bedienstete kaum mit. Prävention soll daher früh und niedrigschwellig ansetzen, so das Justizministerium. Mit "Restart" (Neuanfang) soll das geschehen. 19,3 Prozent der 11 320 Gefangenen in Bayern sind Muslime, Anteil steigend, vor dem Jahr 2016 waren es um die zwölf Prozent. Ein theoretisches Potenzial für Rattenfänger. Nach einer Testphase läuft "Restart" in vier Anstalten für junge Häftlinge: Laufen, Niederschönenfeld, Neuburg an der Donau und Ebrach. 2018 gab es 72 Kurse für 1040 Personen, 380 000 Euro investierte der Staat. "Die JVA darf kein Nährboden für Extremismus sein", sagt Justizminister Georg Eisenreich (CSU). "Bayern hat das Risiko frühzeitig erkannt. Eine Situation wie in Frankreich oder Belgien wollen wir nicht."
Ahmad Mansour, Vollbart und markante Glatze, ist bundesweit gefragt mit seiner Arbeit. Er geriet nach eigener Aussage als junger Araber in Israel unter falschen Einfluss, habe sich fast radikalisiert. Seit 15 Jahren ist er in Deutschland, entwickelt Konzepte, schult Polizisten und Lehrer, arbeitet mit Schülern. Aufgrund seiner Erfahrung erlaubt er sich, als Autor aufzuzeigen, wo Integration scheitert - und dass eine "Generation Allah" drohe. Er geißelt aber auch plumpes Pauschalisieren seitens rechter Kreise. Das bringt ihm Anfeindungen aus allen politischen Lagern, auch aus der muslimischen Szene. Er sagt: "Wir können noch ein paar Jahre versuchen, das Problem zu verdrängen. Aber wenn wir nicht handeln, mit einer nationalen Strategie für alle Bereiche, haben wir es mit vielen Neuradikalisierten zu tun." Sein Team hat Migrations- und Pädagogikhintergrund, es soll "auf Augenhöhe" agieren. Häftlinge melden sich freiwillig zur Teilnahme oder werden gezielt angesprochen.
Ein weiteres Rollenspiel, ein Vater bellt seinen Sohn an: "Bist du ein Kind? Verhalte dich endlich wie ein Mann! Deine Mutter weint jeden Tag wegen dir und ich schäme mich." Mansour sagt, Väter seien bei 90 Prozent aller Teilnehmer Schlüssel zu Problemen - als fehlende Figuren oder als autoritäre Oberhäupter. Wenn ein Vater sage, die blaue Hose sei rot, dann sei das so. Diese Ansicht hätten viele Klienten. Nach Rollenspielen kämen aber auch Reaktionen wie: "Diesen Vater wünsche ich mir." Ehre, Toleranz, Identität, Ideologie im Gewand der Religion - die Kurse bauen über Wochen aufeinander auf. Anfangs komme meist Ablehnung, die Weigerung, irgendetwas zu hinterfragen. Bewusst stellt das Team Narrative vor, die auch Radikale verwenden. Flüchtlinge fühlten sich da oft an "Aktivierungsworte" erinnert, die sie aus Syrien kennen: "Dschahannam", die Hölle, oder "Umma", die Gemeinschaft der "wahren" Gläubigen. Angstpädagogik kombiniert mit Verheißungen. Was ist Religion und was Ideologie? "Wir belehren nicht, sie müssen es selbst entdecken", sagt Mansour. "Wir dagegen müssen ausblenden, dass uns da Kriminelle gegenüber sitzen."
Es geht nicht darum, Glauben auszutreiben. Absurd wäre das gerade in Ebrach, wo die JVA ein altes Zisterzienserkloster ist, mit Heiligenfiguren, Barock, Stuck. Wenngleich nicht überall, etwa nicht im 60er-Jahre-Zellenbau mit grünen Wänden, von denen der Putz bröckelt. Auch nicht in den Zellen, da hängen statt Bibelszenen Pin-up-Kalender. "Restart" soll laut Ministerium Baustein sein in einem "ganzheitlichen Ansatz", zu dem gehört auch muslimische Seelsorge. Oder Bildung: 34 Prozent der Zugänge in Ebrach sind ohne Schul-, 91 Prozent ohne Berufsabschluss.
Repression ergänzt die Prävention. Eine Zentrale Koordinierungsstelle (ZKS) im Justizministerium steht im Austausch mit Verfassungsschutz und Polizei. Wenn einer in Haft kommt, der draußen auffällig war, wird das gemeldet (bei Rechts- oder Linksextremisten ebenso, heißt es). "Extremismusbekämpfungsbeauftragte" werden aktiv, wie es sie in elf Anstalten gibt; mittelfristig ist ein Ausbau geplant. Sie beobachten auch die Abläufe unter Gefangenen: Spielt jemand Imam, bilden sich verdächtige Gruppen? Organisiert wird außerdem die "Entschärfung" radikaler Häftlinge. Über das LKA kann ein Aussteigerprogramm anlaufen - wenn der Häftling das will. "Wir bieten das immer wieder an, wir beenden nie die Kommunikation", heißt es in der ZKS. Und es geht um harte Maßnahmen in der JVA: räumliche Trennung, im Extremfall werde ein Islamist immer wieder in andere Anstalten "verschubt".
"Es muss verhindert werden, dass Inhaftierte mit islamistischem Hintergrund andere radikalisieren", meint auch der Grünen-Abgeordnete Toni Schuberl. Seine Fraktion brachte das Thema mehrmals aufs Tapet, mahnte an, dass es arabischsprachige Seelsorger brauche statt nur türkische. Der neue Doppelhaushalt gebe "keinen Raum für neue Entwicklungen", sagt er. Ein grüner Antrag fragte jüngst, wie es um Schulungen für JVA-Personal bestellt ist; oder warum es keine Begleitforschung zum Thema gebe. Bald soll der Fachausschuss im Landtag dazu beraten. Der Erfolg von "Restart" ist noch nicht erforscht. Aber Mansour hat positive Signale: Entlassene, die ihr Leben geordnet hätten und quasi immun wirkten für radikale Thesen. Ein Mann zum Beispiel: Der habe in den Workshops noch erzählt, wie man eine Frau am besten steinigen sollte.