Ende September 1988, wenige Tage vor seinem Tod, schaute der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß auf einen Sprung beim Schneidermeister Benno Eisenburg in Gmund am Tegernsee vorbei. Er hatte sich bei ihm einen traditionellen Anzug schneidern lassen. Strauß plante nach der Anprobe einen Abstecher zur Wiesn, danach wollte er zur Hirschjagd nach Regensburg. Dort ereilte ihn ein jäher Tod. Sein Tegernseer Trachtenanzug blieb ungetragen in der Schneiderwerkstatt zurück, erinnert sich Eisenburg.
Strauß hatte einen Hang zum volkstümlichen Gewand, wobei er den Trachtenanzug auf der Bühne der Politik eher mied. Alte Fotos zeigen ihn oft im zeittypischen Anzug, gerne band er sich eine weiß-blaue Krawatte um. Als Ministerpräsident ergänzte er sein Äußeres unbefangen mit Trachtenelementen. Manchem Gast, sogar chinesischen Staatslenkern, setzte er zur Freude der Fotografen einen Tegernseer Stopselhut aufs Haupt.
Welche Partei Ihnen am nächsten steht:Wahl-O-Mat zur Landtagswahl in Bayern
Am 14. Oktober wählen die Bayern. Noch unentschlossen? Der Wahl-O-Mat hilft Ihnen, die passende Partei zu finden.
An seinem 60. Geburtstag war Strauß zum Ehrenoffizier der Gebirgsschützen- Kompanie Mittenwald ernannt worden. Von da an schlüpfte er bei passender Gelegenheit in deren Montur. Die Gebirgsschützen pflegen als selbsterkorene Landesverteidiger seit jeher enge Kontakte zur Staatsführung. Die meisten Landesväter traten deshalb als Gebirgsschützen auf, Günther Beckstein lehnte aber ab: Er sei kein Mensch, der in eine Montur passe, sagte er. Strauß, Streibl und Stoiber aber präsentierten sich als stramme Gebirgsschützen, die den Stürmen der Politik tapfer trotzten.
"Dass Politiker Tracht tragen, war in Bayern nicht selbstverständlich. Diese Affinität hat eigentlich erst in der Ära Strauß begonnen", sagt Alexander Wandinger, Leiter des Trachten-Informationszentrums des Bezirks Oberbayern. Der ehemalige Münchner OB Thomas Wimmer (1948-1960), ein Bayer durch und durch, trug beim Anzapfen auf dem Oktoberfest einen normalen Anzug. Edmund Stoiber hielt die Tracht aus staatspolitischen Gründen für unverzichtbar, wie er im Bayernkurier kundtat: "Warum ist Bayern so attraktiv? Das hängt doch auch mit Brauchtum und Tradition zusammen."
Kein Wunder, dass sich Trachtenanzug und Dirndl umgehend als Arbeitskleidung von Politikern etabliert haben. "Wer schleicht in Bayern umanand auf Standortsuach im Trachtengwand?", lästerte einst die Kabaretttruppe Biermösl Blosn, den Blick auf ein weiteres Phänomen lenkend. Nicht nur die Gwappelten lieben Tracht, sondern auch ihre Kritiker. Hier der Minister mit leichtem Sommer-Stoiber (Leinenjacke), dort der Kabarettist in der Tegernseer Lodenjoppe.
Aufnahmen aus der Räterepublik (1919) belegen, dass sich selbst Todfeinde ähnlich gewandeten. Sturmgewehr, Lodenjoppe und Bundhose - es herrschte ein Einheitslook bei roten Truppen wie bei den Freikorps. Sogar führende Nationalsozialisten zeigten sich in der Frühzeit in der kurzen Lederhose, wie Heinrich Hoffmanns gespenstische Hitler-Porträts belegen. Aber auch der Nazi-Gegner Oskar Maria Graf lief in Amerika wie in Russland nur in bayerischer Tracht herum. "In Moskau blieben Menschen stehen, schüttelten den Kopf und zupften an mir, als wäre ich ein fremdes Tier", schrieb Graf später.
Er drückte mit seiner Lederhose eine Haltung aus. Ähnlich wie die frühen, sozial schlecht gestellten und aufrührerischen Anhänger der Trachtenbewegung aus den marxistischen Arbeitervereinen von Bergarbeiterorten wie Penzberg und Peißenberg. Bis 1914 weigerte sich die katholische Kirche, deren Vereinsfahnen zu weihen.
Im modernen, aufgeklärten Berliner Politikbetrieb ruft Tracht immer noch ungläubiges Staunen hervor. Als die CSU-Politikerin Dorothee Bär im Bundestag einmal ein stilvolles Dirndl trug, brandmarkte die Grüne Sylvia Kotting-Uhl dieses Auftreten als "rückständig". Ungeachtet dessen zeigen sich auch grüne Spitzenpolitikerinnen gerne im bunten Dirndlkleid, allen voran Claudia Roth, Vizepräsidentin des Bundestags.
Widerspenstig gebärdete sich dagegen Marga Beckstein. Sie weigerte sich als Frau des Ministerpräsidenten strikt, bei der Eröffnung der Wiesn ein Dirndl anzuziehen. Boulevardmedien attackierten sie deshalb heftig. Zu Unrecht, wie Alexander Wandinger findet. "Tracht nur aus Kalkül anzuziehen oder um ideologische Aussagen zu treffen, das ist unangebracht."
Trotzdem zeigen sich im bayerischen Landtagswahlkampf Kandidaten fast aller Parteien in Tracht, wohl auch, um damit Heimatnähe zu demonstrieren. Eine solche Haltung hatte schon König Max II. (1848-64) gefördert. Stand doch Bayern damals vor ähnlichen Herausforderungen wie der Freistaat heute: Industrielle Revolution, Eisenbahn und Dampfmaschine drängten nach größeren Wirtschaftsräumen, die alte vertraute Welt wackelte.
Der König setzte dieser frühen Globalisierung die "Hebung des bayerischen Nationalgefühls" entgegen, unter anderem durch die Förderung landestypischer Kleidung. Schon beim ersten Oktoberfest 1810 ließ Kronprinz Ludwig Kinderpaare in Tracht auflaufen. Vielleicht wäre Bayern ohne diese Maßnahmen nicht dieses eigenwillige Gebilde, das es heute ist. Tracht aber ist nichts Starres. Die Kulturwissenschaftlerin Simone Egger datiert einen Umschwung auf das Jahr 2000. Damals sei die Tracht von jungen Menschen wiederbelebt worden, "für die der Lodenmantel nicht mehr automatisch für die CSU und für konservative Politik stand".