Auf den ersten Blick ist kaum vorstellbar, welche Kraft das Gerät in sich birgt: eine Art Rucksack ohne Stauraum, mit einer harten Schale für den Rücken und breiten Trägern, die auf den Beckenknochen aufliegen und am Bauch geschlossen werden. Links und rechts jeweils ein kleiner Motor. Eine Art Roboter-Anzug, auch „Exoskelett“ genannt. Seit einem Monat schnallt sich der Pfleger Nikolai Nolf so ein Exoskelett an den Körper und sieht damit ein bisschen aus wie ein Hybrid aus Mensch und Maschine.
Seinen ersten Rundgang durch die Station mache er jetzt immer mit dem Exoskelett, berichtet Nolf der SZ am Telefon. Er nutze es, um Patienten in einen Rollstuhl zu heben, sie beim Gang zur Toilette zu stützen und auch, wenn mehre Patienten nacheinander umgebettet werden müssen. Aufgaben sind das, die körperlich so anstrengend sind, dass Pfleger sie eigentlich zu zweit machen sollten. Im Alltag aber hebt Nolf oft alleine: „Wenn zu wenig Personal auf Station ist, dann macht man das schon“, sagte er. Mit dem Exoskelett habe er dabei jetzt aber ein besseres Gewissen, weil er seinen Rücken schone, auch wenn das natürlich nicht in jeder Situation geht: „Wenn ein Patient klingelt und es schnell gehen muss, kann ich aber nicht sagen, ‚ja warten Sie mal, ich muss noch schnell das Exoskelett anschnallen‘“, sagt der 25-jährige Pfleger. Trotzdem fühlt er sich entlastet: „Nach dem Dienst spüre ich jetzt viel weniger meinen Rücken.“
Die Arbeit von Pflegekräften ist körperlich anstrengend. Laut einer Studie der Krankenkasse DAK zählen sie zu den Berufsgruppen mit den höchsten Krankenständen. „Das ständige Heben von Patienten führt zu einem schnellen Verschleiß von Gelenken und zu einer starken Belastung der Rückenmuskulatur“, sagt Judith Hantl-Merget, Pflegedirektorin bei den RoMed-Kliniken.
Bislang arbeiteten die Pflegekräfte mit einer Art Krahn, der über Schienen an der Decke montiert ist. Mit diesem können die Patienten in einem Tuch sitzend aus dem Bett gehoben werden. Dafür muss jedoch der Patient gedreht und auf das Tuch geschoben werden, was auch eine hohe Rückenbelastung mit sich bringe. Aus diesem Grund setze der Klinikverbund RoMed-Kliniken nun auf die Exoskelette. Gemeinsam mit dem Hersteller German Bionic schulten die Kliniken bereits zwölf Mitarbeiter für den Einsatz der Anzüge.
Nolf ist einer dieser „Super-User“, die ausgewählt wurden, um an der vierstündigen Schulung teilzunehmen und das erlernte Wissen an seine Kollegen weiterzugeben. „Weil ich das Exoskelett jetzt schon fünfzig Mal anhatte, brauch’ ich weniger als eine Minute, bis es sitzt“, sagt Nolf.

Bei der ersten Einweisung werden die Geräte mithilfe einer integrierten künstlichen Intelligenz (KI) auf die individuellen Bewegungsabläufe des jeweiligen Nutzers eingestellt. Die Voreinstellungen sind mit einem persönlichen Code verknüpft, die nach Eingabe des Codes abgerufen werden. Die Motoren können den Rücken beim Hebevorgang um bis zu 36 Kilogramm entlasten, wie Armin Schmidt, Geschäftsführer von German Bionic, referiert. Das erleichtert die Arbeit. Gleichzeitig bleibt aber beim Heben eine Restlast, die die Pfleger selbst stemmen müssen, sodass sie auch keine Muskeln abbauen. Ein automatisches Update ermögliche zudem, dass die Geräte immer auf dem neuesten Stand seien und nicht ausgewechselt werden müssten.
Die Exoskelette seien auch für die Patienten eine Erleichterung. „Patienten haben uns gesagt, dass sie sich selbst auch besser fühlen, wenn die Pflegekraft sich nicht so sehr anstrengen muss“, sagt Hantl-Merget. Zudem gebe es auch zwei Haltegriffe am Exoskelett. Für Schlaganfallpatienten sei es besonders hilfreich, da sie häufig nur einen Arm bewegen könnten. „So ein Griff gibt einfach mehr Halt, als wenn sie sich mit einer Hand am Körper des Pflegers festhalten“, sagt Nolf.
Die Bilanz nach dem einmonatigen Testdurchlauf im Klinikum Rosenheim fällt quantitativ hoch aus: Insgesamt konnten die Pflegekräfte bei 3000 Hebevorgängen um 60 Tonnen Gewicht entlastet werden.
Für Hantl-Merget ist klar: Die Exoskelette können ein Teil der Antwort auf den Pflegenotstand sein. Denn die Lage ist in Bayern genauso prekär wie in den übrigen Bundesländern. Das statistische Bundesamt prognostiziert, dass in 25 Jahren bis zu 280 000 Pflegekräfte fehlen werden. „Auf unserer vergangenen Jubiläumsfeier haben wir zwei Drittel unserer langjährigen Mitarbeiter in ihre Rente verabschiedet“, sagt Hantl-Merget. Diese Entwicklung ist gleich doppelt dramatisch: Denn die Rentner von heute sind die potenziellen Patienten von morgen. Mit den Exoskeletten wollen die RoMed-Kliniken dieser Diskrepanz entgegenwirken, um die Patienten auch mit weniger Personal gut versorgen zu können. „Wir wollen nicht zuschauen und auf einen Krankenhaus-Messias warten“, sagt Hantl-Merget.
Zehn Exoskelette hat der Verbund bereits von dem Unternehmen German Bionic für 150 000 Euro erworben. Geplant ist, für alle vier Standorte des Klinikverbunds je zehn Stück anzuschaffen. Optimal sei es, wenn die RoMed-Kliniken die Geräte in allen Bereichen einsetzen könnten, bei denen die Rückenmuskulatur stark belastet wird. Beispielsweise auch im Operationssaal, in dem Ärzte häufig eine lange Beugehaltung einnehmen. „Da sind wir dann schnell bei 60 bis 80 Stück je Standort“, sagt Hantl-Merget. Der Klinikverbund könne das aber nur über einige Jahre finanziell stemmen. Er brauche Geld von Bund und Freistaat. Über einen Förderverein werden jetzt schon Spenden gesammelt. „Wenn wir es allein finanzieren müssen, dann kommt die Abhilfe der Exoskelette zu spät“, sagt Hantl-Merget.