Mitunter werden Missstände in Pflegeheimen erst lange nach dem Tod von Bewohnern aufgedeckt: Die Wiener Gerichtsmedizinerin Andrea Berzlanovich konnte vor einigen Jahren, als sie in München arbeitete, den späten Nachweis führen. Ihre Analyse von Akten zu Todesfällen bei Menschen, die mit Gurten ans Bett gefesselt waren, zeigte, dass in 22 Fällen der unsachgemäße Umgang mit der sogenannten Fixierung zum qualvollen Tod der Menschen geführt hatte. Inzwischen ist, unterstützt von Fachbehörden, das Bewusstsein gewachsen, dass es auch andere Methoden als tödlich fesselnde Fürsorge gibt, um verwirrte und gebrechliche Menschen vor dem Sturz aus dem Bett zu schützen.
Menschen, die umfassend auf Hilfe angewiesen sind und deswegen in einem Pflegeheim leben, sind wegen ihrer Erkrankungen oft selbst nicht mehr in der Lage, sich über Mängel in der Pflege zu beklagen oder gar vor Gericht zu ziehen. Wer es könnte, der schweigt lieber: Bei schlechtem Service kann man zwar von einem Tag auf den anderen ein Hotel wechseln, aber nicht ein Pflegeheim. Am Tag nach der Beschwerde kommt dasselbe Personal, ohne dessen Hilfe gar nichts geht. Auch die Angehörigen bleiben deshalb meist vorsichtig und zurückhaltend, wenn sie Versäumnisse und Mängel in der Pflege bemerken.
Doch nun nährt die Dissertation der jungen Regensburger Rechtswissenschaftlerin Susanne Moritz Hoffnungen, dass sich Missstände nicht nur von Betroffenen und ihren Betreuern juristisch angreifen lassen. Susanne Moritz promovierte mit dem Werk "Staatliche Schutzpflichten über pflegebedürftige Menschen". Darin vertritt sie die These, dass sich aufgrund der Menschenrechtsverletzungen und Missstände in den Heimen für jeden die Möglichkeit ergibt, unmittelbar vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, statt es nur bei persönlicher Betroffenheit und nach erfolgloser Klage durch die Instanzen anzurufen.
Der Staat komme seiner Schutzpflicht gegenüber Pflegebedürftigen nicht nach, argumentiert die Juristin. Sie seien durch die belegbaren Missstände in den Heimen in ihren Grundrechten verletzt. Weil der Gesetzgeber trotz dieser massiven Verletzung der Menschenwürde untätig bleibe, sei nur der Gang nach Karlsruhe Erfolg versprechend. Und der müsse allen offenstehen, die künftig einmal auf Pflege im Heim angewiesen sein könnten, mithin also jedem Menschen.
Zu den Ersten, die das versuchen, will der Münchner Rechtsanwalt Alexander Frey von "Forum Pflege aktuell" gehören. Seit fast vier Jahrzehnten steht Alexander Frey immer wieder mit an vorderster Front, wenn es darum geht, alle juristischen Mittel auszuschöpfen, um für behinderte und alte Menschen bessere Lebensbedingungen zu schaffen. In den Achtzigerjahren kämpfte er vor dem Verwaltungsgericht darum, dass sich Menschen mit Behinderungen nicht aus Kostengründen in Heime abschieben lassen mussten, sondern ausreichend Hilfe erhielten, damit sie in den eigenen vier Wänden leben konnten. Oft waren es langwierige Verfahren, nicht immer brachten sie Erfolg, aber immer war das Echo in der Öffentlichkeit gewaltig. Denn Frey hat sich nie im Grau geschliffener und wohl abgewogener rechtlicher Argumente verloren, sondern seine Schriftsätze ganz bewusst kräftig mit Emotionen aufgeladen, sehr zum Unwillen mancher Richter.
Aufschrei und Anklage zugleich, das ist auch seine 21 Seiten umfassende Verfassungsbeschwerde, mit der Frey hofft, wieder vorne mit dabei zu sein, wenn es darum geht, den Staat dazu zu zwingen, die Pflege alter Menschen grundlegend zu verbessern. Andere, wie etwa der Sozialverband VdK, wollen sich mit der Klage noch etwas Zeit lassen, um sie sorgfältig vorzubereiten und sich nach einem Verfassungsrechtler umzuschauen. "Wir wollen das ja durchaus auch in einem absehbaren Zeitrahmen verwirklichen", erklärt VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Das Verfassungsgericht könne Maßstäbe setzen.
Den Staat endlich zu einem wirksameren Schutz von Heimbewohnern zu zwingen, diese Chance wittert Frey, der nach eigenen Angaben seit 1978 mehr als 100 Prozesse geführt hat, "in denen es um Unterlassung, Widerruf und Schadensersatzansprüche wegen kritischer Behauptungen zu Pflegemissständen oder um Minderung der Heimentgelte wegen ungenügender Pflege ging".
Er hat Strafanzeigen gestellt, Petitionen eingereicht, doch bis vor das Bundesverfassungsgericht konnte er noch nie ziehen. Prozesse, die Jahre dauern, seien vielen Heimbewohnern nicht mehr zumutbar. "Die Länge der Verfahren verhindert effektiven Rechtsschutz", sagt Frey. Denn allein bis zwei Instanzen entschieden haben, vergehen oft vier bis fünf Jahre: "Das erlebt fast kein Pflegeheimbewohner." Zudem seien gebrechliche Menschen oft nicht in der Lage, das Prozesskostenrisiko gegen einen finanziell übermächtigen Gegner einzugehen. Heimbewohner seien in der Regel auch nicht dazu in der Lage, Missstände zu beweisen, zumal Pflegekräfte aus verständlichen Gründen nur selten bereit seien, sich selbst oder ihren Arbeitgeber zu belasten. Im Interesse der Bewohner, die sich selbst nicht helfen könnten, müsse deshalb ein präventives Verfahren möglich sein.
In der Fachwelt sorgt diese allgemeine Klagebefugnis schon für Diskussionen. Als "kühn" wertet der Freiburger Rechtswissenschaftler Thomas Klie die Thesen der Doktorarbeit in einem Beitrag für Carekonkret. Er betont aber: "Menschenrechtsverletzungen in Pflegeheimen sind empirisch belegbar." Im Ergebnis komme der Staat "vielerorts seiner Verantwortung, Bürger wirksam vor Menschenrechtsverletzungen und Gewalt zu schützen, nicht nach". Das Bundesverfassungsgericht könnte deshalb dem Gesetzgeber aufgeben, "seine Instrumente wirksamer und konsequenter zu gestalten und einzusetzen".
Aber dazu müsste das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde erst einmal zur Entscheidung annehmen. Im langjährigen Durchschnitt erwiesen sich nur 2,4 Prozent der eingereichten Beschwerden als erfolgreich. Frey kann das nicht schrecken: Scheitert er in Karlsruhe, will er vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. International haben Münchner Menschenrechtsaktivisten, darunter auch Frey, die Bundesrepublik schon zwei Mal an den Pranger gestellt wegen der menschenunwürdigen Situation in Pflegeheimen. Daraufhin hat ein Ausschuss der Vereinten Nationen die Bundesrepublik aufgefordert, die Situation zu verbessern. Doch geschehen ist seitdem nicht viel.