Letztens kam eine Patientin mit der Polizei zu uns. Eigentlich hatte sie einen Unterbringungsbeschluss für eine psychiatrische Klinik. Doch sie war sehr betrunken – zu betrunken, sowohl für ihre eigentliche Klinik als auch für den Polizeigewahrsam. Nun sollte sie bei uns ausnüchtern, damit sie am nächsten Tag dann in die Psychiatrie verlegt werden konnte. Klingt eigentlich nicht sonderlich schwer. Aber weit gefehlt: Leicht war bei diesem Fall gar nichts.
Weil die Patientin zuvor angedroht hatte, sich selbst zu verletzen, war sie Fünf-Punkt-fixiert, also mit Gurtbändern an beiden Armen und Füßen sowie am Bauch festgebunden. So sollte sichergestellt sein, dass sie keine Gefahr für sich selbst oder andere sein konnte. Das gefiel ihr nicht, als sie nach und nach aus ihrem Delirium aufwachte. Nachvollziehbar, wer wäre schon gerne im wahrsten Wortsinne ans Krankenbett gefesselt. Uns teilte sie das jedoch leider mit, indem sie wüste Beschimpfungen schrie, an den Gurten zog und zerrte, so sehr, dass ich befürchtete, sie könnte sich daraus befreien. Sie rastete komplett aus.

SZ-Pflegekolumne „Auf Station“:Die Pflegerin als SZ-Kolumnistin
Im fünften Jahr der SZ-Pflegekolumne können nun noch mehr Menschen die Geschichten von Pflegerin Pola Gülberg lesen. Warum die 41-Jährige jede Woche über ihre Arbeit auf der Intensivstation der Ebersberger Kreisklinik erzählt.
Ihr größtes Problem schien zu sein, dass sie unbedingt eine Zigarette rauchen wollte. Nach Rücksprache mit einem Arzt gab ich ihr über meine Schicht verteilt drei Nikotinpflaster. Sie wollte trotzdem rauchen. Immer wieder schrie sie, sobald sie wach wurde – und wenn ich dann bei ihr war, schrie sie mich direkt an.
Trotz allem habe ich jedes Mal zwei Dinge nicht vergessen: Sie war stinksauer, das war offensichtlich – aber eben nicht auf mich persönlich. Und sie war psychisch krank, mehrere Male sagte sie mir, sie wisse gar nicht, wo sie überhaupt sei und was eigentlich los sei.
Mit dieser Einstellung fiel es mir nicht schwer, ihr respektvoll und freundlich zu begegnen. Selbst als ich ihr ein Medikament spritzen sollte und sie dabei versuchte, mich zu beißen, blieb ich gelassen. Sobald ich ihr Zimmer betrat, hatten ihre Bedürfnisse bei mir Priorität. Ich habe mein Bestes gegeben, sie dort abzuholen, wo sie gerade war.
Ein paar Mal habe ich ihr erklärt, dass sie nicht im Zimmer rauchen kann. Mal vom Nichtraucherschutz abgesehen wäre das viel zu gefährlich, schließlich hantieren wir auf der Intensivstation mit hochprozentigem Sauerstoff. Und ich machte ihr klar, dass ich mich gerne für sie einsetzen werde, um sie von der Fixierung lösen zu dürfen, sodass wir hinausgehen können, damit sie eine rauchen kann – allerdings nicht, wenn sie sich weiter so benehmen würde. Ich blieb immer ruhig, freundlich und klar.

Relativ bald hörte sie auf mit ihrer Toberei und drohte nur noch damit, gleich auszuflippen. Sie war in einem Wechselbad der Gefühle, doch sie wurde stetig ruhiger. Sie entschuldigte sich sogar für ihr Benehmen und dass ich keine Angst vor ihr haben bräuchte. „Weißt du“, sagte sie dann, „du warst so nett zu mir und hast mich ernst genommen, da hatte ich gar keinen Antrieb mehr, auszurasten.“
Das hat mich in meiner Herangehensweise bestätigt. Druck erzeugt Gegendruck, das passiert fast automatisch und führt nicht weiter. Aber empathisch reagieren und auf die Bedürfnisse des Patienten eingehen, egal ob man sie nachvollziehen kann oder nicht, egal ob derjenige psychisch gesund ist oder nicht – das ist ein deeskalierender Weg. Diese Herangehensweise in die Arbeit zu integrieren, auch das ist Teil von Pflege.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 41-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind online unter sz.de/aufstation zu finden.