Pflege:Die Falle zwischen Heim und Klinik

Studie untersucht, wie Senioren hin- und hergeschoben werden

Von Dietrich Mittler

Sabine Grundner kann die Unterlagen einfach nicht wegwerfen, die die letzten Wochen vor dem Tod ihrer Mutter dokumentieren - und das, obwohl der nun sechs Jahre zurückliegt. Die 67-jährige Nürnbergerin (ihr Name wurde geändert) hätte sie aber bestimmt nicht gerade jetzt wieder aus dem Ordner geholt und dem Münchner Pflegekritiker Claus Fussek zugeschickt, wäre nicht ein Zeitungsbericht über eine Studie des Klinikums Nürnberg und der medizinischen Privatuniversität Paracelsus erschienen. Diese Studie sollte etwa erkunden, was dran ist an der Behauptung, alte Menschen würden nur zu oft zwischen Pflegeheimen und Kliniken hin- und hergeschoben - bekannt als "Drehtüreffekt". Sie kommt zum Ergebnis: "Gängige Klischees wurden nicht bestätigt."

Das so pauschal in der Zeitung zu lesen, macht Grundner schwer zu schaffen. Ihre damals 98-jährige Mutter war zwar in einer anderen als der in der Studie genannten Einrichtung untergebracht. Aber sie war nachweislich ein Opfer des Drehtüreffekts geworden. Grundner war dem auf die Spur gekommen, als sie die Stationsberichte einsehen konnte. Demnach war die Seniorin spät abends im Heim am Boden liegend aufgefunden und ins Klinikum Nürnberg Süd gebracht worden, weil der Notarzt eine gebrochene Schulter vermutete. Noch in derselben Nacht erfolgte ein weiterer Eintrag in die Pflegedokumentation: "Sanis haben BW (Bewohnerin, Anm. der Red.) zurück gebracht, vor ihrer Zimmertür hat sie schwarz (Kaffeesatz) erbrochen. Ich habe die Sanis gefragt, was das soll, da sie ja schon vorhin schwarz erbrochen hat."

Die Rettungskräfte erwiderten, ihnen sei im Krankenhaus mitgeteilt worden, die alte Frau könne wieder zurück ins Altenheim. Erneut wurde der Notarzt angefordert. Nun kam Sabine Grundners Mutter ins Klinikum Nord. "Dort fand ich sie frierend im völlig durchnässten Nachthemd ohne Strümpfe, ohne Decke in einem Pflegestuhl sitzend auf dem Flur vor", hielt Grundner in einem der Briefe fest, die sie an alle in die Sache Involvierten schickte. Dem Notarzt hielt sie vor: "Meine Mutter hatte sich weder etwas gebrochen noch geprellt. Den sogenannten Teerstuhl erbrach sie schon seit acht Jahren. Das war bekannt." Schlimmer aber noch: Die alte Frau erholte sich nicht mehr von diesen Strapazen. Sie starb kurze Zeit später.

Bald darauf erhielt Grundner einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung sei der Notarzt gewesen. "Es tue ihm unendlich leid, dass meine Mutter letztlich an den Folgen eines völligen unnötigen Krankenhausaufenthalts gestorben ist", gibt sie den Inhalt des Anrufs wieder. Auch habe der Arzt gesagt: "Er sei vom Personal völlig falsch, beziehungsweise gar nicht über den Zustand meiner Mutter informiert worden. Sie hatte sich weder Schulter noch Arm gebrochen." Der Arm war seit 1924 versteift.

Die Zeit heilt Wunden, sagt auch Sabine Grundner. Aber nicht alle. Und so kommt ihr auch noch nach Jahren der Gedanke: "Hätte man mich nur - wie mit dem Heim vereinbart - angerufen. Ich hätte alles aufklären können und meine Mutter wäre zurück in ihr Bett gelegt worden."

Freilich konnte von den Machern der Studie keiner voraussehen, dass sie solche Reaktionen auslöst. Vielmehr betonen sie, die Studie weise auf "Verbesserungspotenziale" hin. Etwa sei deutlich geworden, "wie viele Heimbewohner für sich depressive Zustände beschreiben", und da müsse man künftig in der Pflege verstärkt ansetzen. Die Studie basiert nach Angaben der Verantwortlichen unter anderem auf Aussagen von 368 Heimbewohnern, 37 Pflegenden des NürnbergStifts sowie auf der Auswertung von 120 000 Datensätzen von stationären Krankenhausaufenthalten. Auch hebt das Klinikum hervor: "Die Ergebnisse der Studie gelten allerdings nur für die Stadt Nürnberg, auf andere Kommunen in Deutschland ist sie nicht übertragbar." Nach Ansicht von Sabine Grundner ist sie indes nicht einmal auf Nürnberg übertragbar.

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