Per Anhalter durch Bayern:Daumen raus

Lesezeit: 7 min

Autor Andreas Glas wartet auf eine Mitfahrgelegenheit. (Foto: Veronica Laber)

Null Kosten, keine zusätzliche Luftverschmutzung, beste Unterhaltung: Eigentlich kann man nicht besser reisen als per Anhalter. Unser Autor hat sich auf den Weg gemacht.

Von Andreas Glas

Irgendwo im Altmühltal packt mich die Panik. Es ist dunkel, es ist nass, es ist kalt - und keiner hält an. Auf dem Ortsschild steht "Schernfeld", daneben stehe ich. Alle paar Minuten fährt ein Auto vorbei, alle paar Minuten halte ich den Daumen raus. Ohne Erfolg. Wenn keiner hält, muss ich die Nacht im Freien verbringen. Plötzlich: Ein roter Fiat bremst, eine junge Frau schaut mich an: "Steig ein! Ich kann dich ja nicht im Regen stehen lassen." Die Frau heißt Irina, ich höre Mitleid in ihrer Stimme. Das ärgert mich. Trotzdem könnte ich sie küssen. Irina hat mich gerettet.

Ich fahre per Anhalter. Einmal quer durch Bayern. Nur Landstraße, keine Autobahn. Von rechts unten nach links oben, vom Königssee bis Aschaffenburg. Dazwischen: 550 Kilometer. Warum ich das tue? Ich will wissen, ob es noch funktioniert.

Früher bin ich oft getrampt. Zum See, zur Party, zu Freunden. Ich war ein Provinzkind, ich hatte keine Wahl. Der Bus fuhr im Zwei-Stunden-Takt, das Taxi war zu teuer, S-Bahn gab es nicht. Heute trampt kaum mehr jemand, wahrscheinlich wegen der Mitfahrzentralen im Internet. Die sind sicherer, bequemer, unkomplizierter - aber irgendwie auch langweiliger.

Schönau-Inzell

Donnerstag, 14 Uhr. Es geht zäh los. Eine Dreiviertelstunde warte ich, dann hält ein weißer Transporter. Drin sitzt Markus Walch. Latzhose, kräftige Unterarme, braun gebrannt. Er fragt: "Runter nach Berchtesgaden?" Ich steige ein. Walch kommt von der Schicht. Sein Arbeitsplatz: die Bob- und Rodelbahn, die sich am See entlangschlängelt. Walch präpariert die Bahn, pflegt das Kunsteis im Winter wie im Sommer. Hunderte Weltcuprennen haben am Königssee stattgefunden, aber kein Olympia.

Kriegt München die Winterspiele, könnte sich das 2022 ändern. "Für die Leute hier wäre das etwas Besonderes", sagt Walch, "aber ich kenne das ja schon alles." Dann erzählt er von Salt Lake City, Turin, Vancouver. Walch war bei drei Winterspielen, hat sich um die Eisbahnen gekümmert. "Weil wir vom Königssee uns am besten auskennen", sagt er, grinst und bremst vorm Berchtesgadener Postamt. Nach fünf Minuten ist die Fahrt vorbei.

Um kurz nach vier sitze ich im Auto von Angelika Müller, am Rückspiegel hängen ein Schweinchen und eine Ente aus Plüsch. Wohin sie fahre, frage ich. "Schuhe umtauschen", sagt Müller und muss lachen - weil es Haferlschuhe sind. Vor 13 Jahren ist sie aus Sachsen nach Berchtesgaden gezogen, jetzt feiert ihre Tochter eine bayerische Trachtenhochzeit. Die Lederhose passe, aber die Schuhe seien ihrem Mann zu klein, sagt Müller. Dann deutet sie auf eine Felsformation im Lattengebirge: "Das ist die Schlafende Hexe." Die Felsen sehen aus wie das Profil einer Hexe mit krummer Nase und spitzem Kinn. Kurz nach Bischofswiesen biegt Müller auf den Parkplatz vorm Schuhgeschäft. Ich steige aus.

Sich treiben lassen, fremde Menschen kennenlernen. Es gab Zeiten, da genoss man die Freiheit, kein Auto und kein Geld zu haben. Es hatte etwas Verwegenes, einfach so durchs Leben zu trampen. Frei, verwegen - so fühle ich mich, als ich in Inzell ankomme. Seit vier Stunden bin ich unterwegs, bin in vier Autos gestiegen, habe 50 Kilometer zurückgelegt. Okay, weit bin ich nicht gekommen. Aber, hey: Es geht nicht um Geschwindigkeit, es geht um ein Lebensgefühl. Das Trampen hat etwas Meditatives, das Vorbeirauschen der Autos beruhigt mich. Noch.

Inzell-Wasserburg

Es ist bald sechs, als mich Sebastian mitnimmt. Sein Autoschlüssel hängt an einem weiß-blauen Band mit Sechzger-Wappen. Er ist Löwen-Fan, ich bin Löwen-Fan. Es herrscht sofort Sympathie, wir sind auf Anhieb per Du. Sebastians Leid ist auch mein Leid - also jammern wir ein bisschen. Über die Last der Erfolglosigkeit und den Spott der Bayern-Fans. Wir könnten ewig weiter jammern, wenn Sebastians Fahrt nicht in Traunstein zu Ende wäre. Er setzt mich an einer Bushaltestelle ab und fährt davon. Ich strecke den Daumen wieder raus.

Keine fünf Minuten später fläze ich im Laderaum eines Kleintransporters. Auf dem Boden. Der Laderaum ist durch ein Gitter vom Fahrerhaus getrennt, vorne sitzen Dagmar und Sven. Dagmar trägt Haarband und Nasenring, Sven Dreadlocks und Totenkopf-Shirt. Für mich ist das Trampen ein Experiment, für Sven Leistungssport: Vor zwei Jahren hat er beim Tramprennen mitgemacht, einer Art Europameisterschaft der Autostopper.

Fünf Etappen. Von Berchtesgaden über Slowenien, Montenegro, Albanien bis Griechenland. "Es gibt nur ein Gesetz", sagt Sven: "Ankommen, ohne Geld bezahlt zu haben." Gegen Svens Europa-Abenteuer ist mein Bayern-Trip ein Kinderspiel. Als ich in Seebruck aus dem Transporter klettere, komme ich mir blöd vor. Und kein bisschen verwegen.

Die Etappen vom Chiemsee bis Wasserburg haben etwas Geschäftsmäßiges: Daumen raus, warten, ins Auto rein. Während der Fahrt höre ich die immer gleichen Fragen: Stehst du schon lange? Wo willst du hin? Hast du kein Auto? Dann der übliche Smalltalk wie man ihn von Taxifahrten kennt oder vom Friseurbesuch: Wetter, Fußball und so weiter. Gegen neun komme ich in Wasserburg an. Es wird langsam dunkel. Ich rufe einen Freund an, der in der Nähe wohnt. Wir treffen uns im Café Central, essen Knödelgröstl. Trampen macht hungrig. Und müde. Nach zwei Stunden verabschiede ich mich, nehme ein Zimmer im Hotel am Marienplatz. Ich liege im Bett, hin und wieder rauscht draußen ein Auto vorbei. Das beruhigt mich. Ich schlafe ein.

Das Trampen ist eine zeitraubende Angelegenheit - aber bis heute eine äußerst günstige. (Foto: Veronica Laber)

Wasserburg-Ingolstadt

Neun Uhr früh. Alena hat Feierabend, für mich geht der Tag erst los. Alena, Ende zwanzig, arbeitet als Altenpflegerin in Wasserburg. Sie hatte Nachtschicht. Ich fahre mit bis Haag. Dort warte ich fast eine Stunde, bis ein Kleinlaster hält. Am Steuer sitzt Heinz Englmann. Für eine Rentenversicherung transportiert er Akten, die digitalisiert werden sollen. Von Rosenheim nach Landshut, wo er zu Hause ist. Am Dultplatz steige ich aus. Eine Weile schaue ich den Arbeitern zu, die gerade eine große Holztribüne aufbauen. Es laufen die Vorbereitungen für die Landshuter Hochzeit - das große Mittelalter-Spektakel. Aber lange halte ich mich nicht auf. Vor mir liegen noch gut 350 Kilometer.

Bis ich aus Landshut wegkomme, vergeht eine kleine Ewigkeit. Weil keiner hält, wechsle ich immer wieder meinen Standort. Die Sonne brennt, und mein Rucksack fühlt sich schwerer und schwerer an. Mit jedem Auto, das vorbeirauscht, geht meine Laune ein Stück runter.

Immerhin: Nach zwei Stunden geht es häppchenweise voran, gegen halb vier stehe ich irgendwo an der B 299, mitten in der Holledau. Als es zu tröpfeln beginnt, hält einer dieser schicken Kombis mit dunklen Ledersitzen und Bordcomputer. Auf der Rückbank liegt eine Golfschlägertasche. "Es muss jemand schon total grob aussehen, dass ich nicht anhalte", sagt Klaus Siedenhans: "Ich nehme auch Punker mit. Das sind oft die interessantesten Gespräche."

Ingolstadt-Weißenburg

Die Aussicht auf ein interessantes Gespräch - diese Antwort kommt oft, wenn ich die Leute frage, warum sie Anhalter mitnehmen. Aber ich glaube, der Hauptgrund ist ein anderer: das schlechte Gewissen. Nur zugeben will das keiner. Außer Irina, meine Retterin im roten Fiat. Sie ist vorbeigefahren, hat mich einfach stehen lassen. Spätabends, im Regen, bei fiesem Wind. "Zehn Minuten habe ich mit mir gekämpft, dann bin ich umgekehrt", sagt Irina und dreht den Kopf zu mir: "Du tust mir ja nichts, oder?" Irina hat Angst, auch das gibt sie zu.

Dem Trampen haftet schon immer etwas Unheimliches an. Dass man nicht zu fremden Männern ins Auto steigt, lernt jedes Kind. Einsteigenlassen ist praktisch das gleiche. Ich gebe mir Mühe, harmlos zu wirken. Rede dummes Zeug, nur damit keine Stille aufkommt. Als ich in Weißenburg aussteige, wirkt Irina trotzdem erleichtert. Ich mache die Autotür hinter mir zu, mein Blick fällt durchs hintere Fenster. Auf der Rückbank sitzt ein kleines Mädchen. Es schläft.

Weißenburg-Uffenheim

Um 9 Uhr verlasse ich die Pension, laufe durch Weißenburg. Ein hübsches Städtchen mit Fachwerkhäusern und mittelalterlichen Gassen. Ich frage mich, warum ich nie etwas von diesem Ort gehört habe. Es hat aufgehört zu regnen, aber meine Klamotten sind feucht und muffeln. Ich hatte für zwei Tage gepackt und nicht gedacht, dass die Reise länger dauert. Eine Stunde irre ich planlos umher, dann habe ich einen guten Platz zum Trampen gefunden. An der B 13 in Richtung Würzburg. Bis Lehrberg fahre ich mit Rainer Dittrich und seinen Töchtern Clarissa und Leonie. Die Dittrichs machen extra einen Umweg durch Ansbach, um mir die Stadt zu zeigen: die US-Kaserne, das Schloss, den Karlsplatz.

Mittags steige ich bei Luitgard Breme ein. Rosenkranz am Rückspiegel, Bibel im Ablagefach, im Lüftungsschlitz steckt eine Jungfrau-Maria-Plakette. "Mein Glaube war schon immer da", sagt Frau Breme und erzählt, dass sie sich als Anästhesistin jahrelang geweigert hat, abtreibungswilligen Frauen eine Narkose zu geben. Irgendwann habe sie ihren Beruf dann aufgegeben, einen Bauernhof gemietet und sich dort um Suchtkranke gekümmert. Frau Breme erzählt und erzählt und merkt nicht, dass sie viel weiter gefahren ist, als sie wollte. Eigentlich wollte sie nach Obernzenn, doch plötzlich sind wir in Uffenheim - und ich bin 30 Kilometer näher an meinem Ziel. Aus Dankbarkeit lade ich sie auf ein Stück Johannisbeerkuchen ein.

Fast zwei Stunden sitzen wir auf der Terrasse eines Supermarkt-Cafés. Und Frau Breme erzählt weiter. Dass sie im Gefängnis Drogenabhängige betreut und dort ihren Mann, einen Junkie, kennengelernt hat. Dass sie heute als Heilpraktikerin arbeitet und sich im Winter ihren Lebenstraum erfüllt hat: in den Senegal reisen, um als Ärztin zu helfen. Zurück im Auto verrät mir Frau Breme ein Geheimnis: "Ich musste mal meinen Führerschein abgeben. Für einen Monat. In dieser Zeit bin ich auch getrampt. Ich wäre ja sonst nicht zum Gottesdienst gekommen."

Uffenheim-Aschaffenburg

Ein paar Kilometer hinter Uffenheim tue ich, was ich eigentlich nicht tun wollte: Ich stelle mich an die Auffahrt zur Autobahn. Es ist spät geworden, ich habe Hunger und keine Lust mehr auf Landstraße. Es ist viertel nach vier, als ich zu Reinhard Wening ins Auto steige. Wening fährt zu seiner Freundin. Er lebt in Ansbach, sie in Westfalen. Eine klassische Fernbeziehung. Aber das wird sich ändern: ein paar Wochen noch, dann wird Wening Vater. Zum ersten Mal. Im Gepäck hat er Kinderwagen, Bettstadl, Spielzeug. Gut möglich, dass er bald seinen ganzen Hausstand nach Westfalen karrt. Wir reden übers Vaterwerden, über Selbstbestimmung und darüber, was im Leben wirklich zählt. Wir unterhalten uns gut. So gut, dass Wening beschließt, für mich einen Umweg zu machen. Statt über Kassel zu fahren, nimmt er die Route über Aschaffenburg - und bringt mich ans Ziel.

Es ist seltsam: Eigentlich kann man nicht besser reisen als per Anhalter. Null Kosten, keine zusätzliche Luftverschmutzung, beste Unterhaltung. Aber irgendwie ist das Trampen aus der Mode gekommen. Unverständlich, denke ich, als ich am Aschaffenburger Hauptbahnhof ein Bier trinke. Dann denke ich an die klimatisierten ICE-Abteile, die Gepäckablage, den Speisewagen - und löse ein Bahnticket.

© SZ vom 29.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: