Süddeutsche Zeitung

Gaming:In diesem Videospiel hat ein Nürnberger die Hauptrolle

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"Pentiment" gilt als eine der Games-Überraschungen des Jahres. Noch viel erstaunlicher ist, dass die US-amerikanischen Entwickler die Handlung ins mittelalterliche Bayern verlegt haben. Ein Spielbericht.

Von Maximilian Gerl

Eigentlich läuft es im April 1518 ganz gut für Andreas Maler. Sein Meisterstück, eine Illustration für ein Kloster, nimmt Gestalt an. Daneben treiben Maler, den die Arbeit ins Örtchen Tassing verschlagen hat, recht konkrete Zukunftspläne um: nach Nürnberg zurückkehren, heiraten, eine Werkstatt eröffnen, solche Sachen. Doch dann geschieht ein Mord. Und Maler muss zum Ermittler werden, um einen unter Verdacht stehenden Freund vor dem Henker zu retten.

So weit, so normal für ein im ausgehenden Mittelalter verortetes Videospiel - und doch nicht. Das vermeintlich finstere Zeitalter ist ja popkulturell eher auf den Schwertkampf abonniert, auf Burgenbau und Pest, Wikingerraubzüge und Ritterheere, weniger auf Detektivgeschichten à la "Der Name der Rose". Noch ungewöhnlicher ist es jedoch, wenn ein US-amerikanisches Entwicklerstudio die Handlung nach Bayern verlegt, um sie dort in historischem Kontext und einer an Bildteppiche erinnernden Optik zu entfalten. Auch deshalb wird das diese Woche erschienene "Pentiment" in der deutschen Fachpresse als ein Geheimtipp des Jahres gehandelt. Daddeln nicht made, aber immerhin settled in Bavaria.

Dieses nimmt als fiktives Tassing durchaus Gestalt an: als kleine Welt in der großen Zeitenwende. Während anderswo bereits Buchpressen arbeiten, wird im Skriptorium des nahen Klosters noch von Hand kopiert. Die Bauern sind unzufrieden mit ihrem Status, überhaupt wirkt die Lage angespannt. Im Dorf schimpft jemand auf einen Adeligen zu Pferde ein, während sich ein paar Meter weiter eine Schäferin über das untätige Herumstehen ihres Kollegen echauffiert. Und auf Malers Scherze reagiert ein Drucker pikiert: Nicht alle genössen den Luxus, "tagelang nur an einer Seite zu arbeiten".

Auf Maler kommt es in dieser Kulisse an. Wie bei anderen Adventures bewegen ihn die Spielerinnen und Spieler von einer Bildschirmseite zur anderen, streifen durch Ort und Kloster, suchen Hinweise, sprechen mit den Menschen, wägen Optionen ab - und entscheiden so darüber, wie Maler wahrgenommen wird und wie sich die Handlung entwickelt. Auch der Protagonist selbst lässt sich individuell charakterisieren. Hat er seine Wanderjahre als rauflustiger Tunichtgut in Flandern verbracht? Oder ist er als Geschäftsmann um Eigenwerbung bemüht?

Die Grafik sieht dabei aus, als hätte eine alte Handschrift das Laufen gelernt. Die Personen sprechen in Blasen, mal erscheinen ihre Worte fein, mal ungelenk unter Federkratzen und teils sogar mit Fehlern, die von unsichtbarer Hand ausradiert und korrigiert werden. Ein Glossar vermittelt auftretende Personen und Begriffe der Zeit. Es wartet viel, viel Text. Ohne Lesen keine Chance auf Lösung des Mordrätsels, wenn überhaupt.

Bayern, ob mittelalterlich oder nicht, ist als Game-Setting vergleichsweise unverbraucht. 2012 etwa erschien mit dem "Oktoberfest Manager" ein Aufbauspiel, bei dem man es vom Standlbetreiber zum Wiesnwirt bringen muss, inklusive feiner Biere wie dem "Plörrenberger Märzen" und sich übergebender Gäste. Und Ziel des 2021 veröffentlichten Text-Adventures "Bavarian Odyssey" ist es, ein abgestürztes Alien vor den Einheimischen zu bewahren.

Der Ansatz von "Pentiment" ist da deutlich ernsthafter. Hinter dem Titel steckt das kalifornische Studio Obsidian Entertainment, sonst eher für Titel wie das post-apokalyptische Action-Rollenspiel "Fallout: New Vegas" bekannt. Allerdings hat "Pentiment"-Chefentwickler Josh Sawyer deutsche Wurzeln und ist studierter Historiker: Die Handlung in der Nähe des Brennerpasses spielen zu lassen, habe den erzählerischen Vorteil, verschiedene Kulturen aufeinander treffen zu lassen, erzählte er im BR. Für Publisher XBox Games Studios hat Sawyer sogar eine Leseliste zusammengestellt, darunter eine Biografie des Nürnberger Henkers Franz Schmidt und ein englischsprachiger Band über Albrecht Dürers Reisen.

So gesehen ist Malers Abenteuer bei aller Lust zur Unterhaltung auch eine Art Fortsetzung des Geschichtsunterrichts mit anderen Mitteln. Wer dagegen vom Mittelalter Adrenalinschübe statt Sprechblasen erwartet, könnte wahlweise eine Überraschung oder eine Ernüchterung erleben. Und das recht schnell: Gleich zu Anfang entführt das Spiel vorübergehend in Malers Kopf, zu Zwiegesprächen mit Sokrates, dem in Narrengewändern gehüllten Heiligen Grobian und dem Priesterkönig Johannes - in einen Gedankenpalast, eine Welt in der Welt.

"Pentiment", für PC, Xbox One, Xbox Series X/S. Das Spiel ist Teil eines neuen Game-Abonnemonts von Microsoft oder für circa 20 Euro auf den Plattformen von Xbox und Steam erhältlich.

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