So manche bayerische Stadt wird erst durch ihren Nebennamen geadelt. Mundartsprecher sagen zum Beispiel nicht München, sondern Minga, und die Franken sprechen von Aschebersch, wenn sie Aschaffenburg meinen. Noch kurioser verhält es sich mit der Schwabenhauptstadt Augsburg, denn die ist auch unter dem Spottnamen Datschiburg bekannt. Der Augsburger Datschi war schon im 19. Jahrhundert wohl bekannt, wie der Ortsnamenforscher Wolf-Armin Freiherr von Reitzenstein in seinem soeben erschienenen "Lexikon schwäbischer Ortsnamen" belegen kann (C.H.Beck-Verlag, 480 Seiten, 29,95 Euro). "1864 bezeichnet das Wort Datsche nicht nur ein beliebtes Backwerk, sondern auch Menschen mit bestimmten Eigenschaften", fasst Reitzenstein die Genese von Datschiburg und seiner Population bündig zusammen.
Noch nie sind die Mysterien der bayerisch-schwäbischen Siedlungs- und Gewässernamen so akkurat erfasst worden wie in Reitzensteins neuem Werk, in dem er deren Entwicklung von der frühesten Nennung bis zur heutigen Schreibform in gut 1500 Artikeln darstellt. Damit hat der Forscher seine aufschlussreiche Trilogie vollendet. Bereits 2009 war das "Lexikon fränkischer Ortsnamen" erschienen, und 2006 das für Altbayern geltende "Lexikon bayerischer Ortsnamen".
Der Fluss mit dem ältesten Namen
Natürlich sind damit längst nicht alle 40.000 bayerischen Siedlungsnamen analysiert, aber die wichtigsten hat Reitzenstein gleichsam als Lebenswerk erfasst. Dazu zählen die ältesten Namen in der deutschen Sprache überhaupt, welche den Flüssen gehören. Am frühesten ist die Donau belegt. Die Griechen nannten sie im 5. Jahrhundert vor Christus Istros. Der heutige Name ist laut Reitzenstein erstmals im Jahr 51 vor Christus als "fluvii (des Flusses) Danuvii" bezeugt. Manche Flussnamen gehen also bis in die indogermanische Zeit zurück. Auch der Name Isar ist sehr alt, europaweit, sagt Reitzenstein, etwa als Isère in Frankreich und als Iser in Böhmen.
Den Sinn solcher Namen zu entziffern, ist eine mühselige Arbeit. Die Volksetymologie schaffte sich deshalb einfachere Erklärungen. Ein unterhaltsames Beispiel bietet das Dorf Kirchweidach bei Altötting, dessen Name laut Reitzenstein auf das althochdeutsche wîdahi (Weidengebüsch) zurückgeht. Ein dort sozialisierter SZ-Redakteur weiß allerdings, dass man sich im Dorf eine prickelndere Deutung zurechtgelegt hatte. Demnach habe sich ein Straßenkehrer gerne auf einen Besenstiel gelehnt, statt zu kehren, woraufhin ihn der Bürgermeister mit dem Appell "Kiehr weida!" (kehre weiter) zur Ordnung gerufen habe.
Beim Durchblättern der drei Ortsnamen-Bände tritt zutage, dass Ortsnamen oft mit der Natur zusammenhängen (Günzburg, Gewässername) oder mit der mittelalterlichen Rodungstätigkeit (-reuth, -reit), und nicht selten spiegeln sich in ihnen wirtschaftliche Verhältnisse oder auch Personen wider (Ortsgründer von Landsberied war ein Landbertus).
Hinter jedem Namen steckt eine Geschichte
So erzählt jeder Ortsname eine Geschichte, und diese zu enträtseln, treibt Reitzenstein schon seit seiner Studentenzeit um. Diese Leidenschaft füllt ihn auch mit seinen 73 Jahren immer noch aus. Sein Arbeitszimmer im Münchner Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg ist bis zur Decke vollgestellt mit Fachliteratur. Bis zu seiner Pensionierung unterrichtete Reitzenstein am Münchner Max-Gymnasium die Fächer Latein, Griechisch, Geschichte und Deutsch. Und schon seit 1972 hält er an der Münchner Universität Vorlesungen zur Namenkunde.
Zwei Rollcontainer enthalten den größten Schatz des Gelehrten: 150.000 Karteikarten, auf denen er handschriftlich Namen, ihre erste Nennung, die Herleitung des Ursprungs und ihre Bedeutung aufnotiert hat. Auf dem Kärtlein Kempten steht zum Beispiel, dass das Grundwort Dunon (Dunum) lautet und keltisch ist. Es bedeutet Burg, Gebäude, was wiederum belegt, dass Kempten schon vor den Römern existiert haben muss.
90 Prozent seiner Recherchezeit verbringt Reitzenstein mit der Suche nach alten Namensbelegen in Archiven. "Manchmal suche ich 14 Tage und finde nichts", sagt er. Das ist zermürbend. Andererseits wird seine Motivation oft durch unerwartete Funde gestärkt, wie damals im Kriegsarchiv in Stockholm, wo er in den Akten des Dreißigjährigen Kriegs (1618-48) alte Namensbelege für den Lech fand: Lachstrommen, Leckstromen, und Lack Strommen stand da zu lesen.
Forschung als Wettlauf gegen die Zeit
Trotz aller Erfolge steht der Namensforscher in einem Wettlauf gegen die Zeit. Die für die Klärung eines Ortsnamens unentbehrlichen mundartlichen Formen geraten in rasendem Tempo in Vergessenheit, ebenso die Flurnamen, die oft viele Jahrhunderte alte Sprachschätze darstellen, aber nicht einmal für geeignet befunden werden, in neuen Siedlungsgebieten als Straßennamen weiterleben zu dürfen.
Nur wenige Wissenschaftler widmen sich der zu Unrecht an den Rand gedrängten Namenskunde, und kaum einer mit einer solchen Begeisterung wie der Freiherr von Reitzenstein, der seinen Forschereifer an vielen Tagen nur durch Maßnahmen zur Gesunderhaltung unterbricht. Im schwäbischen Band führt er als Früchte seines Fleißes auch viele alte Erklärungen auf, die heute als unsinnig erkannt sind.
Über Memmingen wurde etwa 1643 gemutmaßt: "Ihr Name daher komme / weiln sich manches Mensch da mehre. Theils nennen sie Mannmenge / von der Menge der Manner." In Wirklichkeit liege der Personenname Mammo zugrunde, der durch das Zugehörigkeitssuffix -ing abgeleitet sei, kann Reitzenstein die Memminger Frauenwelt beruhigen, die ja entgegen der These von 1643 den Männern weder an Tatkraft noch an Vielköpfigkeit nachsteht.