Am 26. Juli 2024 schipperte Sha Mahmood Noor Zahi auf einem Boot über die Seine. Er war kein klassischer Paris-Tourist, das lässt sich schon am Datum der Fahrt erkennen, auf dem Fluss herrschte an diesem Tag die höchste Sicherheitsstufe. Es war jener Tag, an dem die französische Hauptstadt sich selbst feierte und die pompöseste aller Eröffnungszeremonien bei Olympischen Spielen. Noor Zahi war Teil dieser Inszenierung, als Athlet, auf dem Boot, in der Hand die Fahne seines Heimatlandes Afghanistan.
Dreieinhalb Monate später sitzt er auf der Auswechselbank. Noor Zahi hat Platz genommen auf einer der grünen Sitzschalen am Spielfeldrand des Sachs-Stadions, der Heimspielstätte des Regionalligisten 1. FC Schweinfurt 1905, wo auch er so etwas wie eine sportliche Heimat gefunden hat. Nicht auf dem Rasen und eigentlich auch nicht auf der Bank. Sondern auf der Tartanbahn dazwischen. Noor Zahi ist kein Fußballer, für eine ganze Mannschaft hätten die sechs afghanischen Athletinnen und Athleten auf dem Boot in Paris ohnehin nicht gereicht. Er ist Sprinter, der schnellste seines Landes. Und seit dem Ende der Olympischen Spiele als Asylbewerber im „Anker-Zentrum“ Schweinfurt wohnhaft.
Noor Zahi ist an diesem Dienstagnachmittag nicht alleine in das ansonsten menschenleere Stadion gekommen, er spricht noch kein Deutsch und auch kein Englisch, also begleitet ihn sein Freund Nasir Mohammadi, der gleich fünf Sprachen spricht und übersetzt. Noor Zahi hat Mohammadi in der Erstaufnahmeeinrichtung kennengelernt, Mohammadi andersherum Noor Zahi schon viel früher: als den schnellsten Mann seines Landes. Jeder im Camp erkenne ihn, sagt der Übersetzer, 20, über den Sprinter, 33. Sogar afghanische Sicherheitsmitarbeiter hätten ihn im „Anker-Zentrum“ nach Fotos gefragt. Und er selbst beim ersten Aufeinandertreffen natürlich auch, sagt Mohammadi.

Noor Zahi zieht eine Stoffmaske aus seiner weißen Daunenjacke. Die habe er jetzt immer dabei, damit ihn nicht jeder erkenne, sagt er. Und lacht. Er lacht oft, zumindest lächelt er, fast bei jeder Antwort, selbst bei bedrückenden Themen. Warum das so ist, fragt man ihn und – er lacht. „Ich bin durch viele Schwierigkeiten gegangen. Ich muss positiv sein, sonst kann ich meine Träume nicht erreichen.“
Die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles, das ist sein Ziel. „Wenn ich nicht Olympiasieger werde, dann Weltmeister“, sagt er. Noor Zahi ist 33, für einen Sportler nicht mehr das jüngste Alter, zumal für einen Sprinter, der von der Explosivität lebt. Zu zerrütten scheint das ihn und den Glauben an sich selbst nicht. „Ich bin gerannt und gerannt, ich habe viele Hindernisse überwunden“, sagt er. Warum also jetzt stehen bleiben? Noor Zahi will laufen, immer weiter, die 100 Meter unter zehn Sekunden. So wie die Großen seines Sports, so wie der Jamaikaner Usain Bolt, den er sich als junger Mann in Afghanistan in Videos auf dem Handy anschaute. Zunächst will er aber: ein Leben in Deutschland.

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Ob sein Asylantrag Erfolg hat, ist schwer zu prognostizieren. Zumindest im Land bleiben dürfte er aber wohl, bis sich die Situation in seiner Heimat verbessert, wo die radikal islamistischen Taliban 2021 nach dem chaotischen Abzug der internationalen Truppen die Macht zurückerlangten. Die Terrorgruppe lässt in Sportstadien öffentlich Menschen hinrichten, Frauen dürfen nur noch in Begleitung von Männern auf die Straße. Deutschland schiebt deshalb zurzeit nur vereinzelt verurteilte Straftäter und Gefährder nach Afghanistan ab.
Sha Mahmood Noor Zahi wurde, so erzählt er, 1991 als jüngstes von sechs Geschwistern in der Provinz Nimrus im Südwesten des Landes geboren. Als die Taliban 1996 erstmals die Macht eroberten, sei seine Familie nach Iran geflohen. An die Flucht erinnern könne er sich nicht, sagt er. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Erzählungen kaum. Erst als internationale Truppen 2001 die Regierung der Terroristen stürzten, sei die Familie nach Afghanistan zurückgekehrt, diesmal in die Provinz Farah. Dort habe er als Jugendlicher mit dem Sport begonnen, Karate, Taekwondo und: Laufen. 100 bis 400 Meter, in einem lose organisierten Verein, ohne Trainer. „Der Sport war meine erste Liebe“, sagt er. Als Sprinter habe er alle Wettbewerbe gewonnen und als das Nationale Olympische Komitee die besten Athleten aus alle Landesteilen gesucht habe, habe er sich beworben. Mit Erfolg. 2018 nahm ihn die Nationalmannschaft auf.

Fotos aus der Zeit zeigen Noor Zahi auf einer staubigen Piste in einem Stadion in Farah, kleiner noch als das in Schweinfurt. „So etwas wie hier haben wir in Afghanistan kaum“, sagt er und deutet von der Bank auf die rote Tartanbahn. Wegen der schlechten Trainingsbedingungen habe ihn die damalige Regierung mit einem Stipendium nach Iran geschickt – zurück in das Land seiner ersten Flucht. Dort habe er mit einem professionellen Trainer arbeiten können. Und durfte dank einer Wildcard, die Sportlern armer Länder die Teilnahme an Olympia ermöglicht, 2021 bei den Spielen in Tokio antreten. In 11,4 Sekunden rannte er die 100 Meter im Vorlauf, schied aus und stellte einen Landesrekord auf.
Nur eine Woche nach seiner Rückkehr aus Japan nach Afghanistan übernahmen die Taliban wieder die Macht. „Ich bin stark, ich bin Sportler“, sagt Noor Zahi, „aber in diesem Moment habe ich mich so schwach gefühlt.“ Also verließ er Afghanistan abermals, ließ seine Familie zurück und ging – erneut nach Iran.
Dort trainierte Noor Zahi wieder für Olympia, wieder erhielt er eine Sonderstartgenehmigung vom Internationalen Olympischen Komitee und durfte in Paris antreten – während Frauen in seinem Land Sport zu dem Zeitpunkt bereits seit fast drei Jahren untersagt war. 10,64 Sekunden lief er, neuer nationaler Rekord, und das erneute Erstrundenaus. Bedauerlich, ja, aber dennoch „eine riesige Freude“, das alles, „weil mein Weg so weit war“, sagt er. „Es war so unwahrscheinlich.“

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Nach Paris gereist sei er in dem Ansinnen, hernach zurückzukehren nach Iran. Aber als er die Sportanlagen in Frankreich sah, habe er den Entschluss gefasst, zu bleiben. Wenn es noch etwas werden sollte mit seiner professionellen Karriere, musste er in Europa bleiben. Ein Freund lebte bereits seit einiger Zeit in Würzburg, also reiste er mit dem Schengen-Visum, das er für die Spiele hatte, von Paris nach Franken und beantragte dort Asyl. „Die Entscheidung fiel mir sehr schwer, aber ich musste es machen wegen meiner Träume und meiner Ziele“, sagt er, auf der Auswechselbank, in Schweinfurt, die Familie in der Ferne, in Afghanistan. Seine Angehörigen hätten die Entscheidung verstanden, sagt Noor Zahi. „Sie haben mich immer unterstützt.“ Ihr Leben sei hart unter dem Taliban-Regime. Die Wirtschaft im Stillstand, keine Bildung, keine Zukunft, keine Aussicht auf Besserung, das sei der Zustand seines Landes.
Er selbst befindet sich in einem Schwebezustand, das bange Warten auf die Entscheidung über seinen Asylantrag, wie es so viele Menschen erleben, das Warten auf einen Deutschkurs, auf eine Arbeitserlaubnis. „Wenn ich Sport mache, bin ich frei von all dem Stress“, sagt Noor Zahi. Also macht er Sport. Einen Trainer hat er nicht, aber den Übungsplan aus der Zeit in Iran, vier, fünf Stunden Training am Tag, im Stadion, im Fitnessstudio. „Ich arbeite für meine Träume“, sagt er.
Und wenn es nichts mehr wird mit der großen Karriere? Dann könne er Trainer werden. Er wolle jedenfalls „immer im Sport bleiben“. Noor Zahi sitzt inzwischen nicht mehr auf der Bank, er hat seine weiße Daunenjacke ausgezogen und steht auf der Tartanbahn. Dann ruft er – auf Deutsch: „Tschüss!“ Er lacht. Und läuft los.