Olympia 1972:Ein Stück Sporthistorie, das bis jetzt in einer Tasche verschwand

Olympia 1972: Das Trikot, das er damals getragen hat, wird nun zum Ausstellungsstück.

Das Trikot, das er damals getragen hat, wird nun zum Ausstellungsstück.

(Foto: Sven Simon/Imago)

Klaus Wolfermann hat das Trikot, das er beim Olympiasieg 1972 trug, bis heute aufbewahrt. Nun trennt er sich davon.

Von Max Ferstl

Noch einmal legt Klaus Wolfermann das Trikot in die Sporttasche, die vor ihm auf dem Esstisch steht. Es ist kein liebevoll-zärtliches Verstauen und auch kein grobes Hineinstopfen. Wolfermann packt seine Tasche eher wie ein Bibliothekar, der ein Buch zurück ins Regal stellt, sorgfältig, aber geschäftsmäßig. Einmal genau in der Mitte gefaltet, verschwindet das Hemd in der Tasche. Ungefähr so dürfte dieses Trikot auch am 3. September 1972 zusammengelegt worden sein. Wolfermann trug es, als er bei den Olympischen Spielen in München völlig überraschend Gold im Speerwurf gewann.

Vor einem Wettkampf, sagt Wolfermann, kreisen die Gedanken um die eigene Strategie, die Form, die Konkurrenz. Kein Gedanke kreist um die Frage: Was ziehe ich heute an? Das Trikot ist vor allem ein Arbeitsgegenstand, den alle deutschen Athleten vor Beginn der Spiele bei der offiziellen Einkleidung bekommen. Wenn Wolfermann, 72, das Leibchen von damals in die Hand nimmt, muss er schmunzeln. Der grobe Stoff, die wenig schnittige Form, der breite rote Brustring - "aus heutiger Sicht ist es eine Lachnummer." Oder, so sieht es das Museum der Bayerischen Geschichte: ein Stück Sporthistorie, das künftig im Museum zu sehen sein wird.

Das Faszinierende an solchen Relikten ist unter anderem, dass man über sie schmunzeln und staunen kann, widerspruchsfrei. Und dass sie mehr sind als ein Stück schlabbriger Stoff, der - zumindest vermutet das Wolfermann - in der Zwischenzeit etwas eingegangen sein könnte.

Wer will, kann in Wolfermanns Olympia-Trikot eine Menge hineindeuten. Zum Beispiel die vielen schönen Momente der Münchner Spiele. Am 3. September 1972 reihten sie sich für die Deutschen aneinander wie Perlen an einer Kette: Wolfermann gewann Gold mit dem Speer, Hildegard Falck siegte über die 800 Meter, Bernd Kannenberg triumphierte über die 50 Kilometer Gehen. Den "goldenen Sonntag" nennen sie ihn noch heute. Zwei Tage später ermordeten palästinensische Terroristen elf israelische Sportler und einen Polizisten. Auch dieser Tag wird bleiben, ebenso wie die Debatte, warum die Spiele unbedingt weitergehen mussten. "Sie mussten weitergehen", findet Wolfermann. Er ist allerdings froh, dass er seinen Wettkampf schon hinter sich hatte. "Ich wüsste nicht, ob ich sonst so hätte auftreten können."

Sein Sieg vereinte vieles, was den Reiz des Sports im Kern ausmacht: Spannung bis zum letzten Wurf, wenige Zentimeter zwischen Niederlage und Triumph und vor allem: den Sturz des großen Favoriten über den Außenseiter. Eigentlich stand ja so gut wie fest, dass der für die Sowjetunion startende Janis Lusis gewinnen würde. Ein bulliger Lette, 1,86 Meter groß. Lusis lag lange vorne. "Mit ihm habe ich mich überhaupt nicht beschäftigt", sagt Wolfermann, nur 1,76 groß, aber als früherer Turner sehr agil.

Klaus Wolfermann

Über seinen Siegwurf 1972 bei den Olympischen Spielen in München freut sich Klaus Wolfermann noch heute.

(Foto: Manfred Neubauer)

Eine Medaille hatte er sich vorgenommen, wissend um die gute Form und den tückischen Wind unter dem Zeltdach. Wolfermann, damals mit dichtem Bart, hatte sich im Training seinen Visierpunkt ausgesucht: die Stadionuhr auf der anderen Seite. Genau in diese Richtung schickte er seinen fünften Wurf, 90,48 Meter, Führung! Dann schaute er rüber zu Lusis: "Der ist aufgesprungen, ganz hektisch, und hat seinen Apfel weggeworfen." Lusis riskierte alles, doch sein letzter Speer landete nur bei 90,46 Meter - und Wolfermann war Olympiasieger.

Ein Olympiasieg öffnet viele Türen

"Viele behaupten ja, dass so ein Sieg im Leben nichts verändert. Das ist Quatsch", sagt Wolfermann. Es ändere sich alles. Zumal in einer Zeit, in der sich in Deutschland noch keine Monokultur des Fußballs etabliert hatte. Dass etwas anders war, merkte er schon am nächsten Tag. Seine Frau wollte sich die Wettbewerbe im Turmspringen ansehen. Zwar hatte Wolfermann keine Karte, "aber wir wurden durchgewinkt, freier Zugang, Ehrentribüne VIP-Plätze. Links der spanische König, rechts der Schauspieler Kirk Douglas: Das war fantastisch". Ein Olympiasieg öffnet viele Türen.

Doch Wolfermann hat sich genau ausgesucht, durch welche er ging. Nie habe er die Gesellschaft der Prominenten gesucht, sagt er. Einladungen zu "Schicki-Micki-Feiern", wie sie Spitzensportler regelmäßig bekommen, wirft er in den Papierkorb. Im Gegensatz zu anderen Sporthelden, die im echten Leben auf Zwergenmaß schrumpften, fand Wolfermann stets Antworten auf die Sinnfragen, die sich nach dem Ende der Zeit im Rampenlicht zwangsläufig stellten. Viele Jahre arbeitete er als PR-Mann beim Sportartikelhersteller Puma, noch heute sammelt er in verschiedenen Initiativen Geld für kranke und benachteiligte Kinder.

Bayern-Inventar

Mit der Geschichte über das Olympia-Trikot des Speerwerfers Klaus Wolfermann startet die Bayernredaktion eine neue Serie. Grundlage der Beiträge sind Exponate, die im künftigen Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen sein werden. Die Reportagen, Features und Porträts sollen die spannenden Geschichten erhellen, die hinter den Objekten stecken, die das Haus der Bayerischen Geschichte für das neue Museum erworben hat. Auf diese Weise wird zum Beispiel deutlich, warum der ehemalige Abgeordnete Hias Kreuzeder mit einem Hirschfänger im Bundestag auftauchte, wie das italienische Speiseeis ausgerechnet von Grafenau aus Bayern eroberte oder wie der Bierkrug eines Revolutionärs von 1918/19 in einem Wirtshaus im Bayerischen Wald die Zeiten überdauerte. hak

Wer ihn zu Hause in Penzberg besucht, muss schon genau hinschauen, um die Spuren der ruhmreichen Vergangenheit zu erkennen. Wolfermann pflegt ein nüchternes Verhältnis zu den Gegenständen, die ihn bekannt machten als Olympiasieger, als Sportler des Jahres, als Weltrekordhalter. In einem Regal hat er sich eine kleine Ecke eingerichtet. Die Goldmedaille hängt dort über einem Kissen aus braunem Samt. Die Speere liegen verstaut in der Garage, das Trikot ruht in der Tasche. Das bedeutet nicht, dass ihm die Sachen egal wären. "Für mich steckt in diesen Gegenständen eine Geschichte", sagt Wolfermann.

Als die Anfrage vom Museum kam, hat er entschieden: "Ist doch eigentlich schön, wenn andere auch etwas davon haben." Sein Trikot verrät auch etwas über die Athleten der Gegenwart, die sich die hochmodernen, ultraleichten Jerseys vom Leib zerren, sie ins Publikum werfen. Oder in der Mitte durchreißen wie der große Diskuswerfer Robert Harting. Als Harting noch Wettkämpfe gewann, dirigierte er die Fotografen, bevor er sein Trikot zerfetzte. Die Bilder landeten auf den Titelseiten. "Alle haben darauf gewartet", sagt Wolfermann.

Er hat nie ein Trikot zerrissen. Als er an jenem 3. September sah, dass Lusis entscheidender Versuch zwei Zentimeter zu kurz geriet, hüpfte er nur in die Luft und stieß die Arme nach oben zum Stadiondach, wie man es vom Fußballer Gerd Müller kennt. "Alles war kleiner damals", sagt Wolfermann. Auch die Förderung der Athleten. Er bekam damals von der Deutschen Sporthilfe 100 Deutsche Mark im Monat. Heute, schätzt Wolfermann, könnte er als Profiathlet Millionen verdienen. Er klingt nicht so, als würde er bedauern, dass es anders gekommen ist. Am Abend wird er nach Berlin reisen, wo gerade die Europameisterschaft der Leichtathleten stattfinden - mit Speerwerfer Thomas Röhler, der 2016 in Rio de Janeiro gewonnen hat. Als erster Deutscher, 44 Jahre nach Wolfermann. "Mal schauen, was die Jungen so treiben", sagt Wolfermann.

Er nimmt seine Tasche vom Tisch, die ebenfalls an das Museum gehen wird, wiegt sie in der Hand, als wollte er ihr Gewicht schätzen. Dann zieht er langsam den Reißverschluss zu.

Das Exponat wird dem Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zur Verfügung gestellt, das im Mai 2019 eröffnet werden soll. Näheres dazu unter www.hdbg.de.

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