Ein helles Bild mit grauen Schatten. Sicher ein abstraktes Bild. Doch dann im Näherkommen entdeckt man Strand, Meer, schwarze Menschen. Sie laufen, springen, rennen. Flüchten sie vor irgendetwas? Heribert C. Ottersbach hat „Piazza“ im Jahr 2008 gemalt, lange bevor das Meer für ungezählte Flüchtlinge zum Grab wurde. Durch seine Ambivalenz zählt das Gemälde zu jenen Bildern, die aus der jüngsten Ausstellung im Olaf-Gulbransson-Museum dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Als eine jener „Geschichten, die das Meer erzählt“, so der Titel der neuen Schau.
Michael Beck, gebürtiger Tegernseer, im Hauptberuf Galerist in Düsseldorf und seit November 2020 Vorsitzender der Olaf Gulbransson Gesellschaft, folgt darin wieder dem bereits bewährten Prinzip, befreundete Kunstsammler um Leihgaben zu bitten. Da sein Netzwerk nach 30 Jahren in der Branche groß ist, verdankt das kleine Museum seinen Kontakten schon eine ganze Reihe von ungewöhnlichen Ausstellungen, unter anderem die fantastische Gerhard-Richter-Schau aus der Sammlung von Thomas Olbricht im Vorjahr. Sie brachte bislang auch die meisten Besucher ins Haus. „Inzwischen zählen wir 25- bis 30 000 Gäste im Jahr“, sagt Beck stolz.
Dieses Mal widmet er sich in seiner Funktion als Kurator dem Motiv des Meers, das tatsächlich auf fast jedem der Exponate auftaucht. August Macke begnügt sich in seinem „Großen Fischzug“ (1913) allerdings mit dem See Genezareth. Wieder sind ganz große Namen vertreten, Emil Nolde genauso wie Egon Schiele, Georges Braque, Pablo Picasso oder Max Beckmann. Dreizehn Privatsammler haben Beck ihre Schätze zur Verfügung gestellt, oft Arbeiten, die schon lange nicht mehr gezeigt worden sind, was die Ausstellung sehenswert macht.

Das älteste Bild stammt von Willem van de Velde, der als flämischer Marinemaler im 17. Jahrhundert Seeschlachten und Kriegsschiffe festhielt. Ein Sehnsuchtsort ist das Meer in dieser Zeit noch nicht, weder bei van de Velde noch in der Studie von Canaletto oder bei Theodore Gudin (1802–1880), der sein Bild aus einer ganz ungewöhnlichen Perspektive malt.
Der französische Maler war bekannt dafür, unter extremen Bedingungen zu arbeiten und ließ sich, wenn es ihm notwendig erschien, sogar an Masten festbinden, um die Hände zum Zeichnen freizuhaben. Um die „Matrosen an der Takelage“ festzuhalten, kletterte er in schwindelerregende Höhen, um deren Arbeit von einem anderen Mast aus genau zu beobachten. Ebenfalls extrem, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, ist die bewegte Wasseroberfläche, die Li Trieb (1953–2020) mit ungezählten Bleistiftstrichen gezeichnet hat. „36 883 Minuten gezeichnete Zeit“ steht in der Bildunterschrift, sie selbst bezeichnete ihre Arbeiten als „gebannte Momente der Aufmerksamkeit“.

Wer freilich dem chronologisch geordneten Rundgang folgt, entdeckt, dass das Meer bald nicht mehr nur als Arbeitsplatz für Fischer und Seeleute auftaucht, sondern dank sich entwickelnder Zugverbindungen auch als Freizeit- und Erholungsort entdeckt wird. Eugène Boudin malt hinreißend impressionistisch angehauchte Strandszenen, auch Auguste Renoir und Felix Vallotton schätzen den Strand als Motiv. Düster dagegen gestaltet der belgische Symbolist Léon Spilliaert das Meer. Zwei winzige Schiffe lässt er 1904 am Horizont vorbeiziehen, das riesige Gewässer eine einzige schwarze Fläche.
Die stilistische Vielfalt ist, wie immer in den Tegernseer Ausstellungen, groß, die Qualität der meisten Exponate hoch, die Hängung dicht. Beck kennt die meisten Bilder gut, einige hat er vermittelt. „Bei einigen ärgere ich mich noch immer, dass ich sie verkauft habe“, sagt er. Beispielsweise bei der zauberhaften frühen Feininger-Zeichnung „On the Shore of our Sea, Julia Dear!“, die noch an dessen Anfänge als Karikaturist erinnert. Noch hat Feininger den Kubismus nicht kennengelernt, weder Robert Delaunay noch Picasso getroffen; von der strengen prismatischen Auffächerung seiner späteren Arbeiten ist noch nichts zu spüren.

Auch Max Beckmann schätzte das Meer. Im holländischen Seebad Scheveningen malte er 1928 „Abends auf der Terrasse“, ein eigenwilliges Hochformat. Noch beeindruckender ist „Ostende“, das er schon 1932 begann, damals noch als „Nordsee“ betitelt. 1945 überarbeitete er das Bild noch einmal, gab ihm den Namen „Ostende“. Ein fast leerer Strand im Sturm, das Meer ist ganz braun geraten. Beckmann hatte am 19. Juli 1937, also genau an dem Tag, als in München die Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“ eröffnet wurde, Deutschland verlassen. Er ging ins Exil, erst nach Amsterdam, dann nach Den Haag. Wer freilich die nachdenkliche junge Frau ist, die er 1939, mit einem Brief in der Hand, auf einem Balkon mit Meerblick festhielt, ist bis heute nicht geklärt.
Pläne für weitere Ausstellungen hat Michael Beck mehr als genug
Beck hat schon viele weitere Projekte im Kopf. Dem Meer folgt demnächst der späte Kirchner, danach plant er eine Ausstellung mit Werken der internationalen Künstlergruppe Zero, die 1958 von Heinz Mack und Otto Piene in Düsseldorf gegründet wurde. Das Werk des 94-jährigen Mack wird im Mittelpunkt stehen – „ich hoffe sehr, dass er auch kommt“. Aber „natürlich“ wird es auch Arbeiten von Yves Klein und Lucio Fontana geben. Danach steht Picasso auf Becks Wunschliste und eine Tony-Cragg-Einzelausstellung. Sieht nicht so aus, als würde es langweilig werden in Tegernsee.
Eines der Bilder, auf denen gar kein Gewässer zu entdecken ist, stammt übrigens von Kandinsky: ein kleines Aquarell aus dem Jahr 1940. Aber dafür stehen auf Linien, die Regalbrettern ähneln, lauter hübsche Schiffe.
Picasso, Beckmann, Turner und andere Geschichten, die das Meer erzählt, bis 20. Juli, Olaf Gulbransson Museum Tegernsee. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, 250 Seiten, 29,80 Euro.