Oktoberfest 2010:Endlich im Himmel

Zwischen Rausch und Ernüchterung, Wonne und Wahnsinn: Das Bier auf dem Oktoberfest fließt, es wird angebandelt und Prominente schunkeln mit dem Feiervolk.

Kathrin Haimerl und Lisa Sonnabend

Der erste Tag auf dem Oktoberfest 2010. Wir sind im Schottenhamel-Zelt gewesen und haben einen Tag lang aus dem Bierzelt berichtet. Vom Anzapfen, von Heino beim Schunkeln und von den lustigsten Anekdoten der Gäste. Eine Live-Reportage.

Die Luft im Schottenhamel ist inzwischen noch stickiger und die Gäste um einiges rotgesichtiger. Auch die Lederhosenträger mit glasigen Augen sind jetzt eindeutig in der Überzahl, die Ordner müssen immer mehr Betrunkene hinauskomplimentieren. Die Kapelle schmettert "Die Krüge ...." "Hoch!" brüllt das Publikum zurück. Und nochmal: "Die Krüge..." "Hoch!" Und dann spielt die Band "Que será, será...", die Besucher liegen sich in den Armen. Da werden viele gleich am ersten Tag ein bisschen wehmütig. Aber nur ein bisschen. Denn der Wahnsinn hat ja gerade erst begonnen.

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Uns ist noch ein bisschen schummrig von der Achterbahn. Deswegen betätigen wir uns passiv: Zugucken beim "Hau den Lukas". Im Moment arbeitet sich an der Mädchenbeeindruck-Maschine ausgerechnet ein fesches Madl mit schwarzen Zöpfen im Dirndl ab, die Kerle gucken zu. Die Frau schwingt den sechs Kilo schweren Hammer ohne große Mühen und hat sichtlich Spaß dabei. Sogar der Animateur, der sonst nicht um einen dummen Spruch verlegen ist, scheint beeindruckt. Was für eine Vorlage. Die Kerle zögern noch, lassen zunächst noch einen kleinen Bub den Hammer schwingen, der kaum größer ist als das Werkzeug lang. Der Kleine hat sichtlich Mühe, den Hammer auf den Holzbock zu hieven. Dafür hat er die Zuschauer auf seiner Seite. Dann fasst sich einer der Kerle doch Mut und schwingt den Hammer drei Mal, der Zapfen saust zwei Mal bis ganz nach oben, so dass die Glocke läutet. Nicht schlecht. Respekt. Doch in Sachen Applaus bei den Zuschauern liegt eindeutig der Bub vorne.

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Was tut sich eigentlich außerhalb des Bierzeltes? Natürlich sind auch im Biergarten alle Plätze besetzt, natürlich versuchen immer noch Verzweifelte, ins Bierzelt zu gelangen - und natürlich tobt der Wiesnwahnsinn auch im Freien. Wir steigen ein in die Alpina Achterbahn. Es geht höher und höher und, oh nein, immer noch höher. Und dann. "Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!" Ein Blick nach links verrät, meine Kollegin hat nicht weniger Angst und kreischt nicht hörbar leiser. Ein Blick nach hinten: Ein etwa zehnjähriges Mädchen hält sich die Hände vor die Augen. Es weint. Ich bin fast ein wenig erleichtert darüber, es hat noch jemand mehr Angst als wir.

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Die Kapelle im Schottenhamel stimmt von STS Fürstenfeld an. Die Menge steht längst auf den Tischen, Dirndl und Lederhosen soweit das Auge reicht. Einem Dirndl wird es dann doch ein bisschen zu heiß unter den schwitzenden Leibern. Sie zerreißt ihre Strumpfhose, sie macht das sehr reizend, die Reste stopft sie kurzum in ihre Stiefel. Apropos Stiefel, solche sind an diesem Samstag etliche zu sehen in Kombination zu allen möglichen Dirndln, was meist aber nicht sehr schick aussieht. Noch abenteuerlichere Kombinationen sieht man bei den Herren. Die Wiesn ist ja die einzige Jahreszeit, an der die Männer kurze Hosen tragen dürfen, ohne dass sie dafür schief angeschaut werden. Aber grüne Chucks zur Krachledernen? Geh weida! Einer, der die Tracht auf dem Herzen trägt und dem Trachtenwahnsinn erst seit kurzem folgt, ist Nicolas, 35 Jahre alt. Aus Erding sei er zwar, aber in München geboren, erzählt er. Also ein echtes Münchner Kindl. Er sagt: "Als richtiger Bayer braucht man keine Tracht haben." Aber wenn, dann muss die Lederhose kurz sein. "Damit ma die Wadl sieht." Weil: "Wadl san Wadl."

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Seit geraumer Zeit sitzen beziehungsweise zeitweise stehen und schunkeln wir unten, nur wenige Tische von der Band entfernt. Es ist später Nachmittag. Die Blaskapelle spielt nun vorzugsweise Kracher: Sierra Madre, Fürstenfeld oder Ein Bett im Kornfeld. Noch hat der Alkohol die meisten Besucher nicht außer Gefecht gesetzt, aber er hat ihre Zungen und Hüften bereits gelockert. Es ist Anbandelzeit! Zwei Fremde teilen sich eine Schnupftabakdose, am Geländer tanzen sich zwei Jugendliche an, ein sich eben gefundenes Pärchen knutscht heftig. Wer nicht innerhalb der kommenden zwei Stunden zuschlägt, für den bleiben nur die Bierleichen - oder ein weiterer Oktoberfestbesuch.

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Was der Wiesnhit 2010 wird, lässt sich noch nicht ausmachen. Der heiße Favorit Waka waka von Shakira ist noch gar nicht gespielt worden. Dafür aber natürlich schon Wahnsinn , Er gehört zu mir und Viva Colonia. Zwei Jahre in Folge - 2004 und 2005 - war das der Wiesnhit. Der Song kommt von einer Band mit dem in Münchner Ohren fremd klingenden Namen Höhner. Das ist kölsch und bedeutet Hühner. Also Hendl. Wieso singt ein Haufen Bayern im Bierzelt einen Song einer fremdsprachigen Band aus vollem Halse mit? Ein noch größeres Paradox an diesem Wiesnhit, ja geradezu ein Affront, ist, dass das Lied Viva Colonia heißt. Es rühmt nicht die bayerische Hauptstadt, sondern die Domstadt in Nordrhein-Westfalen, Heimat des Karnevals. Sind die Bayern im Bierzelt durch den exzessiven Bierkonsum verrückt geworden? Nein! Denn Höhner singen in dem Lied: "Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust. Wir glauben an den lieben Gott und haben auch immer Durst." Und das beschreibt das Wesen der Bayern vortrefflich. Besonders das von denen am Samstag im Bierzelt.

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Irgendwo in einer Ecke vom Schottenhamel, Leiber drängen sich aneinander, Handys werden gezückt. Und mittendrin: Ein Mann mit knallrotem Trachtenjanker, weißem Haar und dunkler Sonnenbrille. "Heino" kreischen die Dirndl, ein Bursche klopft dem Promi von hinten auf die Schulter, da dreht sich der Schlagersänger ein wenig steif um, winkt huldvoll in die Menge. "Ich find's wunderbar hier", sagt er in seiner einzigartigen Bariton-Stimme. Und, wird er denn noch länger bleiben? "Ja", sagt er. "Aber nicht hier." Sondern? "Ich bleibe bis heut Abend in München", sagt er, winkt noch einmal, dann schiebt ihn auch schon sein Security-Mann in Richtung Ausgang.

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Natürlich ist Matthias an diesem ersten Wiesnsamstag wieder im Schottenhamel. Das macht er seit Jahren so. Der Münchner hat eine Freundin, deren Vater "seit 17 Generationen oder so" hier reserviert, wie er sagt. Deswegen sei es kein Problem, einen Tisch zu bekommen. Der 39-Jährige sitzt mit seinen Freunden an einem Tisch direkt vor dem Haupteingang. Die Hendlreste sind noch nicht abgeräumt, die Maßkrüge dafür schon wieder frisch. Matthias trägt einen grünen Trachtenjanker, einen Hut mit Feder - und eine recht verschlissene, aber dafür gut sitzende Lederhose. "Die ist älter als ich", sagt er stolz. Er habe sie über Freunde organisiert. "Jahre hab ich gesucht und keine gefunden, die mir passt." Das Suchen hat sich gelohnt.

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Früher wurde auf dem Oktoberfest demjenigen Besucher, der die längste Anreise hatte, ein Preis verliehen. Damals gewannen Preußen oder Italiener. Batu hätte damals extrem gute Chancen auf den Gewinn gehabt. Er kommt aus der Mongolei. Da er Freunde in München hat, lässt er sich einen Oktoberfestbesuch natürlich nicht entgehen. Mit einer Maß in der Hand und Lederhosen an den Beinen lehnt er am Geländer im Schottenhamel. Was ihm am besten gefällt? "The girls in Germany are very open." Die Mädchen sind sehr aufgeschlossen. Und was ihm nicht taugt? "Das teure Bier", sagt er und nimmt noch einen kräftigen Schluck.

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Die Blaskapelle macht Pause. Doch plötzlich hebt das Bierzelt an - und singt gemeinsam: "Eine Straße mit vielen Bäumen. Ja, es ist eine Allee, Olé, Allee!" Und nun scheiden sich die Geister im Bierzelt. Die einen, zugegebenermaßen diejenigen mit mindestens einer Maß intus, bekommen eine Gänsehaut. Andere, die nüchtern sind, schütteln den Kopf und murmeln "Kindsköpfe". In dem glasigen Blick der Bierzeltbesucher sehen die einen pure Wonne und Freude, die anderen wenden sich erschrocken und angewidert ab. Wahnsinn und Alptraum, Rausch und Ernüchterung liegen auf der Wiesn so nah zusammen.

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Stickig ist es im Zelt, aber qualmfrei. Für die Raucher unter den prominenten Gästen indes gibt es praktischerweise einen Balkon, von wo aus man die Unglücklichen unten beobachten kann, die nicht mehr ins Zelt gekommen sind. Ein Münchner mit Schnauzer, Trachtenjanker und kurzer Lederhose steht auch da, es ist Manfred Haugg, der Fahrer von Oberbürgermeister Ude. Das Rauchverbot auf der Wiesn, nein, das gefalle ihm gar nicht, sagt er. "Zwar sagen die Leute immer, dass die Kleidung nicht mehr nach Rauch stinkt, dafür stinkt sie jetzt nach Fett." Herr Haugg ist ein gemütlicher Münchner und ein echter Wiesn-Fan. Ja, die nächsten Wochen werden stressig. Immerhin ist für ihn, den Fahrer, der Morgen danach nicht so schlimm. Denn schließlich muss er seinen Chef auf alle Termine begleiten. Gestern, für die Historische Wiesn, habe er sich extra herausgeputzt. Da sei er in Miesbacher Tracht erschienen. Die kurze, helle Lederhose heute, das sei eher Freizeitkleidung. "Beim Anzapfen kleide ich mich lässiger", verrät er.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Horst Seehofer keine Lederhose trägt und warum Ralph Siegel so mürrisch schaut.

"Ich wünsche mir eine narrisch schöne Wiesn"

Natürlich sind jede Menge Berühmtheiten an diesem Samstag im Schottenhamel. Die meisten sitzen in der Ratsbox auf dem Balkon. Schauspieler Axel Milberg und Frau Judith sitzen mittendrin, später werden sie sich beim Schunkeln wieder innig in den Armen liegen, die Bilder werden dann in den Klatschzeitschriften in den kommenden Tagen auftauchen. Schlagerstar Heino sitzt in einer Ecke - natürlich mit großer schwarzer Sonnenbrille. Auch die Schlagersänger Patrick Lindner und Florian Silbereisen und Schauspielerin Michaela May sind da. Nur dem Münchner Kindl wird das Treiben ein wenig zu bunt. Es hat seine Kapuze abgenommen und geht die Treppe nach unten. Schon Richtung Ausgang? Es ist noch nicht einmal zwei Stunden Wiesn!

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"Ein Prosit, ein Proooooosit ..." Die Kapelle stimmt das erste Prosit der Gemütlickeit an. An den Tischen krachen die Maßkrüge aneinander, die ersten heben den Fuß auf der Bierbank. "Die Stimmung brodelt", sagt unser derzeitiger Tischnachbar in Box Nummer 5, ein junger Mann in Lederhose aus dem hohen Norden. Jedes Jahr komme er aufs Oktoberfest, erzählt er. "Das ist für mich der Himmel der Bayern." Nun schunkeln die ersten. Die Band stimmt sich mit einem gemütlichen Jodler auf die kommenden Stunden ein. Und der Kabarettist Bruno Jonas, der zur Jubiläumswiesn das Buch "Gebrauchsanweisung fürs Oktoberfest" herausgebracht hat, lässt sich das Hendl schmecken.

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Den Platz direkt vor der Anzapfbox hat sich in diesem Jahr Komponist Ralph Siegel mit Frau Kriemhild geangelt. Kriemhild ist immer noch ganz aufgeregt vom Anzapfen - es war ihr erstes Mal. "Wir waren schon um 11 Uhr da", erzählt sie. "Und haben nichts bekommen. Das ist ein komisches Gefühl." Prominente kriegen ja sonst immer, was sie wollen. Ralph Siegel dagegen ist ein echter Anzapfkenner. "Seit seiner Kindheit ist er am ersten Tag auf der Wiesn", sagt seine Frau. "Früher hat er seine Mutter immer auf die Theresienwiese gezogen." An diesem Mittag wirkt es eher, als sei Kriemhild die treibende Kraft und er der Gezogene. Der Komponist schaut etwas mürrisch um sich.

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O'zapft is: Die trockene Zeit ist vorbei im Schottenhamel. Ein Gruß an die Wiesn von Oberbürgermeister Christian Ude, der mit seiner Lederhose eingezogen ist: "Ich wünsche mir eine narrisch schöne Wiesn bei Bilderbuchwetter - wie ma's jetzt haben." Die wohl spannendste Frage in dieser Minute: Wie viele Schläge hat Anzapf-Methusalem Ude gebraucht? Zwei waren's wie schon die beiden Male zuvor und im Jahr 2005. Jetzt also fließt das Bier, die ersten Maßen werden ausgeschenkt. Die erste erhält traditionell Horst Seehofer, der auch in diesem Jahr nicht in Lederhose erschienen ist. Einen Trachtenanzug hat er an, die Lederhose zu Hause im Schrank gelassen, weil: "Meine Wadln sind nicht so schön wie die des Oberbürgermeisters" - an dieser Aussage habe sich zum vergangenen Jahr nichts geändert. Und noch etwas interessantes hat Horst Seehofer zu berichten: Es geht um das Lebkuchenherz, das er im vergangenen Jahr Kanzlerin Angela Merkel zukommen ließ und die Frage, wem er denn heuer eins schenken würde. Seehofer zögert kurz: "Ja ..." und sagt dann: "Meiner Frau". Und die Aufschrift? "I mog di."

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Hat es in der 200-jährigen Oktoberfestgeschichte schon einmal einen ersten Wiesntag gegeben, an dem nicht die Sonne geschienen hat? Wir können uns nicht erinnern. Auch am Eröffnungssamstag 2010 zeigt sich das Wetter von seiner festlichen Seite. Die Besucher haben Trachtenjanker zuhause gelassen - und präsentieren ihre neuen Lederhosen und Dirndl. Grün und blau ist dieses Jahr Mode, so viel steht fest. Und schauerlich kurze Dirndl sind leider immer noch in.

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Oans, zwoa, stopp! Noch ist das Oktoberfest 2010 nicht eröffnet. Die Zelte sind zwar schon dicht, die Besucher stehen beim Einzug der Wiesnwirte Schlange, doch noch ist das erste Fass nicht angezapft, das Bier fließt noch nicht, die Wiesn-Kapelle hat noch nicht angefangen zu spielen. Die Gäste im Zelt sitzen vor ihrer Maß Spezi und gönnen sich erst einmal einen Brotzeitteller. Die Bierkrüge stehen leer im Regal. Manche Besucher sind dennoch bereits angetrunken. Wie sie das machen? Ab und zu sieht man eine Bierflasche aus einer Tasche herausluken.

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