Oberschleißheim:Streng geheim

Sie produzieren in einem Hochsicherheitstrakt. Nichts darf nach außen dringen. Die Schreiner Group stellt Etiketten, Folien und Feinstaubplaketten her. Um sich vor Fälschungen zu schützen, wird sogar der Abfall überwacht

Von Sophie Burfeind, Oberschleißheim

Immer wieder machen Theodor Schreiner und sein Kamerad sich gegenseitig Mut. Auch an diesem Tag. Sie liegen im Schützengraben, um sie herum fallen Schüsse, die russischen Panzer sind nur noch ein paar Meter entfernt. Sie haben Angst. Jeden Moment könnte es vorbei sein. "Wenn wir hier je wieder rauskommen, dann gründen wir gemeinsam eine Firma", sagt Walter Hipp, der Kamerad. Er ist Graveur und träumt davon, mit Siegelmarken Geld zu verdienen, wenn der Krieg vorbei ist, eines Tages. Theodor Schreiner gefällt die Idee. Beide Soldaten überleben. Doch nach 1945 gerät Schreiner zunächst in Kriegsgefangenschaft, ihre Wege trennen sich.

Als er schließlich heimkommt, ohne Geld, ohne Arbeit, erinnert er sich an die Idee aus dem Schützengraben. 1951 gründet Theodor Schreiner eine eigene Firma. "M. Schreiner. Spezialfabrik für geprägte Siegelmarken und Etiketten" heißt sie, benannt nach seiner Frau Margarete. Das junge Ehepaar fertigt Plaketten, die an die Wand genagelt werden können und Brot- und Strumpfmarken. Die beiden Kinder Helga und Helmut helfen mit. Erst in der Garage ihrer Tante Gretel in München, dann mieten sie einen alten Wirtshaussaal.

Und heute?

Drei Generationen später empfängt Roland Schreiner in seinem Büro am Bruckmannring in Oberschleißheim. Dort produziert die Schreiner Group, wie der Familienbetrieb heute heißt, auf 55 000 Quadratmetern; 145 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Das Gebäude darf man nur mit Besucherausweis betreten, der Weg zu Roland Schreiner führt durch lange, weiße Flure mit Linoleumboden. Der Geschäftsführer trägt einen grauen Anzug, rosa Hemd, Brille. Er hat 45 Minuten Zeit für das Gespräch, dann muss er weiter zum nächsten Termin. Denn: Heute leitet der Enkel von Theodor Schreiner ein Unternehmen mit 900 Mitarbeitern, das in 26 Ländern vertreten ist, in Deutschland, den USA und bald auch in China produziert, und in die ganze Welt exportiert - von Hinterhofatmosphäre keine Spur mehr.

Doch Roland Schreiner weiß aus Erzählungen von seinen Großeltern, von seinem Vater Helmut, der den Betrieb bis 2012 führte, wie schwierig die ersten Jahre waren. "Man hat mit nichts angefangen", sagt der 45-Jährige ernst. "Man hat gebastelt und geschaut, dass man irgendwas zusammenbringt. Das war ein harter Weg." In den Sechzigerjahren, als die nötigen Klebestoffe entwickelt waren, habe die Firma begonnen, mit selbstklebenden Etiketten zu experimentieren. "Etiketten-Schreiner" so nannte sich der Familienbetrieb da. Das kleine Unternehmen versuchte sich vor allem in der Kosmetikbranche. Aber auch das sei mühsam gewesen, erzählt Schreiner. Er überlegt kurz, dann sagt er, um das begreiflicher zu machen: "1976 hatte die Firma einen Jahresumsatz von 4,6 Millionen Mark, umgerechnet 2,3 Millionen Euro. Nach 25 Jahren! Heute machen wir das in vier Tagen."

Oft hat man bestimmte Produkte im Kopf, wenn der Name eines Unternehmens fällt. Bei der Schreiner Group will einem nichts einfallen - obwohl man wahrscheinlich schon mal ein Produkt der Firma in der Hand hatte. "Die allermeisten unserer Produkte verschwinden irgendwo im Unsichtbaren, im Prozess oder in einem Gehäuse", erklärt Schreiner. Am Ende steht auf den Etiketten der Name der Firma, die es verkauft, nicht der des Herstellers.

Die Schreiner Group stellt Etiketten, Folien und andere komplexe Materialien für den medizinischen Bereich, für die Autoindustrie, für Ämter, Banken, Behörden und viele weitere Branchen her. Blättert man in der Firmenbroschüre, sieht man Etiketten mit ausgefallenen Sensoren, Sicherheitscodes, Aufhängevorrichtungen für Infusionen - alles technologisch höchst beeindruckend. Nur zu speziell und zu kompliziert zum Erklären. Aber einige Produkte gibt es dann doch, die einem bekannt sind.

Sie sind in einer Glasvitrine ausgestellt, neben dem Büro des Geschäftsführers. Da ist zum Beispiel die Feinstaubplakette oder das Rubbeletikett für PIN-Nummern. Zu gern würde man sehen, mit welchen Tricks sie hergestellt werden. Leider nicht möglich, alles streng geheim. Wo es um Fälschungssicherheit geht, will die Firma sichergehen, dass nichts gefälscht werden kann - und nichts nach außen dringt.

In einer Halle, in der Etiketten bedruckt werden. Auch bei nicht so geheimen Produkten sind die Sicherheitsvorkehrungen erstaunlich. Hinter die Glastür kommen nur Mitarbeiter mit entsprechender Zutrittskarte, Handys und Taschen müssen draußen bleiben, Kopf und Schuhe mit Hauben aus Stoff bedeckt werden. Weiße Etikettenbahnen sind auf riesige Maschinen gewickelt, auf einem Band wird mit Siebdruck schrittweise das Logo einer Firma auf ein Etikett aufgetragen. Die ganze Halle ist videoüberwacht. Dabei sind es doch nur einfache Etiketten. Oder nicht? Bernhard Hoffmann schüttelt den Kopf. Auch hier gebe es Maschinen, Techniken und Kundennamen, die geheim bleiben müssten, sagt der 45-Jährige. Hoffmann ist der Chef der Logistik, weil er das Unternehmen so gut kennt, führt er durch die Produktionsanlagen. "Noch größer sind die Sicherheitsvorkehrungen bei Sicherheitsprodukten zum Beispiel zur Fälschungssicherheit", sagt er - und erzählt von der Feinstaubplakette. Die werde in einem Hochsicherheitstrakt mit mehreren Sicherheitsschleusen am Eingang gefertigt, in dem sich immer mindestens zwei Mitarbeiter aufhalten müssten. Hoffmann bemerkt: "Selbst der Abfall wird am Ende gewichtsmäßig erfasst, damit nichts wegkommen kann und bei der Vernichtung überwacht."

Eine Stunde zuvor. Roland Schreiner sitzt auf einem Stuhl in seinem Büro und hält lächelnd eine kleine Glasampulle mit Nadel in die Luft, an der ein oranges Plastikteil befestigt ist. Needle-Trap heißt diese Erfindung. Seine Firma hat sich schon mehr als 100 Erfindungen patentieren lassen, aber auf die ist er besonders stolz. Die Geschichte dazu erzählt Schreiner gern: 2005 schickt er zwei Mitarbeiter auf eine medizinische Messe - bis dahin hat die Firma noch nicht viel gemacht in dem Bereich. "Ich hatte den Eindruck, das könnte interessant sein", sagt er. Dort sehen die Männer ein Nadelschutzprodukt: eine aufwendige Konstruktion, um die Nadel einer Spritze nach ihrer Benutzung zu schützen. Das geht einfacher, denken sie sich und fangen an zu basteln. Mit ihrer Erfindung kommen sie zurück zu Roland Schreiner: ein Kunststoffetikett, an dem eine Art Klettverschluss die Nadel festhalten soll. Der Chef ist begeistert.

"Ich hatte das Glück, dass damals schon ein Kunden- und ein Marktbedarf bestand", sagt er, "nämlich Nadelstichverletzungen." Allein zehntausend Fälle pro Jahr in Deutschland. Drei Jahre lang wurde in der Firma gefeilt, aus diesem Prototypen ein medizintaugliches Produkt zu entwickeln. Dafür wurden spezielle Maschinen gebaut, die von Robotern bedient werden. Letztlich habe sich der ganze Aufwand aber gelohnt, sagt der Geschäftsführer: "Davon haben wir schon mehr als 350 Millionen Stück verkauft."

Am Abend, zurück in der eigenen Wohnung. In der Handtasche findet man die Zutrittskarte der Schreiner Group. Bevor sie in den Papierkorb wandert, hält man kurz inne vor Verblüffung: Auf der Karte schimmern nun die Worte "ungültig" durch. Wahnsinn, was Etiketten heutzutage alles können.

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