Es gibt ja immer zwei Schauplätze in der Politik, den vorderen Bereich und den hinteren. Was 1982 auf der Vorderbühne einer - wie's schön heißt - "feierlichen Eröffnung" zu hören war, kann man sich lebhaft vorstellen. Das Haus Marteau wurde damals eröffnet, das bayerische Kabinett schickte einen Vertreter, an salbungsvollen Worten sollte kein Mangel sein: Eine "Begegnungsstätte" für den musikalischen Nachwuchs aus aller Welt wurde da aus der Taufe gehoben und das in Oberfranken, in einer Künstlervilla. Sollte das Wort vom "kulturellen Leuchtturm" schon gängig gewesen sein - der Minister dürfte sich zielsicher bedient haben.
Was im Bühnenhintergrund zu hören war an jenem Tag, findet sich in keiner chronikalischen Überlieferung. Es ist aber verbürgt: Kurz vor Beginn der Reden nahm sich der CSU-Minister einen der Subalternen zur Seite, formte seine Mundwinkel zum Dreieck und raunte: "Glauben Sie wirklich, dass hier jemand herkommt?"

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Knapp 40 Jahre später dürfte es erneut Zweifler geben. Ein Kammermusiksaal unter der Erde, eines der spektakuläreren Projekte in der jüngeren bayerischen Baugeschichte und das in diesem, wie heißt es gleich, diesem Lichtenberg? Kaum 1000 Menschen leben dort, Tendenz negativ, an Bekanntheit mangelt's freilich nicht. Dies aber nur, weil sich der Ort seit 20 Jahren über fehlende Beachtung in der Tagesschau nicht beklagen kann, eines ungelösten Kriminalfalls wegen. Kennen also tut man den Ort. Aber will man auch hin?
Der Münchner Architekt Peter Haimerl jedenfalls hat sich das Haus - leicht abseits vom mittelalterlich ummauerten Städtchen gelegen - vor einigen Jahren angeschaut und war angerührt. Nicht nur, dass ein halbwegs trainierter Werfer von dort aus locker einen Stein in ein Gebiet befördern könnte, das 1982, beim Besuch des Ministers, auf den Namen DDR hörte. Haimerl sah den englisch anmutenden Landschaftspark, die großbürgerliche Villa und wusste vom Plan, das Haus um Räumlichkeiten und gerne auch einen Konzertsaal zu erweitern. Was übrigens die offenbar rhetorisch gemeinte Frage des Ministers recht handfest beantwortet rückwirkend: Ja doch, in diese vom Bezirk Oberfranken betriebene "Internationale Musikbegegnungsstätte" wollten sogar ziemlich viele.
Junge Künstler, nicht selten mit Wurzeln in Fernost, besuchen dort Meisterkurse von Lehrenden, die auf so klangvolle Namen wie Siegfried Jerusalem oder Edda Moser hören. Wer sich vor der Saaleröffnung mal für ein paar Stunden ins Haus gesetzt hat, ahnt, warum das da so beliebt ist bei Musikern. Am Ende eines Nachmittags glaubt man sich an exakt ein Fahrzeug zu erinnern, das durch die Mauern zu hören war. Es gebe gewiss Ähnliches, sagt Bezirksheimatpfleger Günter Dippold, der übergeordnete Hauschef, wirkliche Konkurrenz aber fürchte man in Europa nicht. Hoppla, fränkisches Selbstbewusstsein.
Ein Mangel: Bislang konnten angehende Profimusiker, die Kurse durchaus nicht zu Schnäppchenpreisen angeboten bekommen, in lediglich sechs Räumen proben - und beim Abschlusskonzert am Abend des vorletzten Kurstages musste man in der Villa dann stets improvisieren. Meist traf man sich im einstigen Wohnzimmer des Meisters Marteau, Konzerte sind das offiziell schon gewesen, aber schwer zu unterscheiden vom Privatissimum.

Ein Erweiterungsbau war folglich erwünscht, inklusive Saal für etwa 100 Menschen. Haimerl erzählt, dass er für seine Idee, die historische Villa in ihrer Schönheit als Solitär im Landschaftspark stehen zu lassen, keinen klobigen Konzerthauserweiterungsneubau daneben zu stellen und stattdessen ins Erdreich auszuweichen, nur ein paar Augenblicke benötigt habe.
Nun mangelt's im Norden Oberfrankens an manchem, nicht aber an oberirdischen Flächen für Neubauten. Die Idee von Haimerl in dieser besonderen landschaftlichen Konstellation ließ man sich trotzdem eingehen. Wobei es eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben dürfte, dass Haimerl mitverantwortlich ist für einen Kulturort, der wie wenig andere Neubauten vergangener Jahre mindestens den Freistaat in Staunen versetzt hat: Dass exakt nach Blaibach im Bayerischen Wald, nicht weit von der tschechischen Grenze entfernt, ein Konzertsaal gehört, war vor Haimerls Entwurf eine Idee für Leute, denen ihrer Visionen wegen schnell mal ein Arztbesuch gedroht hätte. Inzwischen gilt es beinahe schon als unschicklich, dort immer noch nicht gewesen zu sein.
Der neue Saal? Den Historiker Günter Dippold muss man sich als Menschen mit lexikalischen Kapazitäten vorstellen, man wirft ihm eine Frage zu und bekommt einen Handbucheintrag in Form einer mittelschweren Monografie geboten. Eine Einführung also zunächst in die Geschichte des Henri Marteau, was ja insofern nicht schaden kann, als es ohne ihn keine Villa und ohne Villa keinen neuen Konzertsaal gäbe. Geboren 1874 in Reims, Vater französisch, Mutter deutsch, beide musikalisch. Als Zehnjähriger bereits debütiert Marteau mit der Geige vor großem Publikum, es folgen Auftritte in Wien, London, Paris. Marteau wird Professor für Violine in Berlin, komponiert auch selbst, vor allem mit Max Reger verbindet ihn eine enge Freundschaft. Ulrich Wirz, der sich wissenschaftlich mit Marteau beschäftigt, nennt den Violinvirtuosen "eine Figur, die man einen historischen Superstar nennen könnte".

Nach Lichtenberg kommt Marteau, als er beim Besuch eines Freundes in Franken den Hügel neben dem Städtchen entdeckt, seine Sommervilla dort dürfte er sich ausschließlich mit Gagen finanziert haben, die ihm die Tourneen einbrachten. Sommers lebt Marteau in Lichtenberg, sonst in Berlin, man muss sich die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg als glücklich vorstellen. Danach aber liegt Mehltau auf dieser Geschichte. Auf deutscher Seite machen Gerüchte die Runde, Marteau sei französischer Spion, er gerät zwischen die Fronten, verliert seinen Lehrstuhl, zieht nach Lichtenberg, wird unter Hausarrest gestellt. So wie vor dem Krieg wird es danach nie wieder. Heute gilt Marteau als Figur, die exemplarisch steht für die tragischen Wirrungen im Europa des 20. Jahrhunderts. 1934 stirbt er, im Garten der Villa findet Marteau seine letzte Ruhestätte.
Zweiter Anlauf jetzt: Der neue Saal, der rauschhaftes Chaos und die Detonationen des Klangs versinnbildlichen soll? Dippold deutet an, dass es im Umfeld der Baustelle nicht immer komplett konfliktfrei zugegangen sei. Die Pandemie, Verzögerungen, Mehrkosten, ein ambitionierter Entwurf, Bauen unter der Oberfläche, oberfränkische Erde, die widerborstiger ist als geglaubt. Aus dem Mund von Architekt Haimerl klingt das ähnlich, nur aus anderer Perspektive. Hätte ein Zivilgericht zu entscheiden gehabt, wer da womöglich zu viel wollte zwischendurch, es wäre spannend geworden. Muss es aber nicht, man hat sich doch zusammengerauft. Und so ist vier Jahre nach Baubeginn aus dem Mund beider nun Übereinstimmendes zu hören: etwa 5,2 Millionen Euro für ein lichtes, 60 Zentimeter tiefergelegtes, barrierefreies Haus-Untergeschoss mit drei neuen Übungsräumen samt exzeptionellem Musiksaal? Wer das für teuer halte, lebe in einer anderen Welt. Haimerl sagt es so: Unterm Strich lege er bei dem Projekt finanziell eher drauf. So einen Entwurf verwirkliche man aber eben nicht oft im Leben.

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Tatsächlich ist schon allein der Blick in den nun fertigen Saal ein Erlebnis. Inspiriert durch die Bergbauhistorie des Ortes - der preußische Spitzenbeamte Alexander von Humboldt hatte auf seiner ersten Station als Montanforscher in Franken seinen Blick in den Boden Lichtenbergs gerichtet - gelangt man durch einen an Bergwerksstollen erinnernden Gang in einen fast sakral anmutenden Raum, in dem ineinandergeschichtete Granitspitzen gewaltigen Ausmaßes einen Eindruck hinterlassen, der mindestens staunenswert ist; wenn nicht gar - in einer der kleinsten Städte der Republik - geradezu atemberaubend. So etwas erwartet man einfach nicht.

Granit, sagt Haimerl, werde den Raum ästhetisch und auch akustisch prägen. 13 mal 13 Meter misst dieser, man kann den Musizierenden von zwei Seiten und in unmittelbarer Nähe zuhören und dabei, geht es nach Haimerl, "eigene Bilder zur Musik komponieren" und "im Dialog der Richtungen neue Gedanken" fassen, sich der Magie dieses Raumes hingebend.
Ob's dafür unpolierten Granit, tonnenschwer aus Niederbayern, gebraucht hätte? Es gab Zeiten, da war sich Dippold nicht sicher. Inzwischen hat er ein Probekonzert hören dürfen im Saal. Dippold ist Honorarprofessor an der Uni Bamberg, er weiß sich gewählt auszudrücken. Er sitzt in der unteren Sitzreihe dieser Raumskulptur, schaut versonnen in Richtung Flügel und sagt: "Wenn da jemand sitzt und spielt" - kurze Pause. "Es ist geil."