Süddeutsche Zeitung

Oberbayern:Zugunglück von Bad Aibling: Die Wut der Hinterbliebenen wächst

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Von Matthias Köpf, Bad Aibling

Bei den Feuerwehrleuten in Bad Aibling und Umgebung haben an diesem Donnerstag um kurz nach drei viertel sieben die Handys vibriert. Eine Textnachricht erinnert Hunderte Helfer an ihren Einsatz vor genau einem Jahr, später gibt es eine Andacht am neuen Denkmal. Aber die Bilder von den beiden ineinander verkeilten Zügen sind auch so wieder da, die Schreie, das Blut, die Verletzten, die Toten und das eigene Funktionieren, irgendwie.

Zwölf Menschen sind beim Zusammenstoß zweier Regionalzüge am 9. Februar 2016 gestorben, viele andere wurden schwer verletzt. Der Fahrdienstleiter von damals sitzt seine Haftstrafe ab, die Verletzten und die Hinterbliebenen versuchen, sich in die Normalität zurückzukämpfen. Doch bei manchen von ihnen wächst auch die Wut. Denn bei der Bahn bewegt sich bisher wenig.

Von der DB habe es bisher nicht einmal eine Entschuldigung oder ein Gespräch gegeben, sagt der Bad Aiblinger Anwalt Friedrich Schweikert im Namen seiner 19 Mandanten. Die meisten von ihnen wurden bei dem Unglück verletzt, einige haben Angehörige verloren. "Man merkt deutlich, dass die immer aggressiver werden", sagt der Anwalt. Denn es habe zwar einen Brief gegeben, in dem die Bahn allgemeines Bedauern bekundet und Hilfe angeboten habe.

Auskünfte gebe das Unternehmen aber nicht, Bitten um Gespräche würden abgeblockt. Und wenn es um die versprochene Hilfe gehe, verweise der Konzern immer nur auf die Bayerische Oberlandbahn (BOB) und deren Versicherung. Dies entspricht laut Bahn einer Vereinbarung der Unternehmen nach dem Unglück. Die BOB betreibt den Verkehr auf der Strecke Holzkirchen-Rosenheim, es waren ihre Züge, die ineinander gerast sind und inzwischen deren Angaben zufolge als Totalschaden an den Hersteller zurückgegeben wurden.

Der Mann, den das Landgericht Traunstein im Dezember als Schuldigen an dem Unglück zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt hat, ist jedoch ein Angestellter der DB. Der Fahrdienstleiter im Bad Aiblinger Stellwerk war nach Überzeugung des Gerichts abgelenkt, weil er während der Arbeit am Handy gespielt hat wie schon in vielen Schichten zuvor. Am 9. Februar jedoch machte er tödliche Fehler. Er verwechselte Gleise und Zeiten und setzte von Hand zwei Signale, mit denen er die Automatik des Stellwerks überstimmte und die beiden Züge in gegensätzlichen Richtungen auf die eingleisige Strecke schickte. Als er dies bemerkte, bediente er das Funkgerät falsch.

Der Fahrdienstleiter saß im Gericht allein auf der Anklagebank, doch aus Sicht der Verteidiger und einiger Nebenkläger hätten Vertreter der Bahn mindestens auf einem Hocker daneben Platz nehmen sollen. Der Konzern hatte einen großen Stab nach Traunstein geschickt, denn den Verantwortlichen war bewusst, dass auch über die mögliche Mitverantwortung der Bahn als Betreiberin von Strecke und Stellwerk gesprochen werden würde. Ein Ermittler der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes machte auf eine ganze Reihe technischer Unzulänglichkeiten aufmerksam. Diese haben das Unglück nicht verursacht, aber hätte es sie nicht gegeben, wäre es womöglich nicht zu der Katastrophe gekommen.

So hat der Fahrdienstleiter am Display seines Notruftelefons zwei Funkkanäle zur Verfügung. Er hat irrtümlich den falschen gewählt und den Notruf so an andere Fahrdienstleiter abgesetzt und nicht an die Lokführer. Dass es für den Fahrdienstleiter im Stellwerk verschiedene Notrufkanäle gibt, halten Experten für unnötig und schlimmstenfalls verwirrend. Die beiden Kanäle wird die Bahn wohl irgendwann zusammenschalten, doch heikler ist für den Konzern ein anderer Punkt.

Denn das Stellwerk hätte längst nachgerüstet werden müssen, sagte der amtliche Unfallermittler vor Gericht. Eine zusätzliche Sicherung hätte den Fahrdienstleiter demnach noch ein weiteres Mal gezwungen, über die Betriebslage nachzudenken und so vielleicht seinen Fehler zu erkennen. Dieser "Erlaubnisempfangsmelder" hätte dem Zeugen zufolge schon seit 1984 eingebaut werden müssen. Die Nachrüstpflicht gilt für bestimmte Stellwerkstypen nur "im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel", doch um welchen Typ es sich in Bad Aibling handelt, dazu gebe es selbst bahnintern widersprüchliche Angaben.

Die Anzeige dort habe einen Schaltfehler gehabt, doch grundsätzlich hätte die Automatik es verhindert, beide Züge auf die Strecke zu schicken. Einen Grund für ihre Weigerung gibt die Technik aus den 1970er Jahren aber nicht an, wenn der Fahrdienstleiter sie manuell überstimmen will, etwa um die Störung eines Signals auszugleichen.

Mit Technik auf diesem Stand, also Schalttafeln mit Drucktasten, Relais und Glühlampen, sind laut Bahn 1329 Anlagen oder 47 Prozent aller Stellwerke in Deutschland ausgestattet. Viele sind noch älter: Elf Prozent arbeiten elektromechanisch, 28 Prozent rein über Seilzüge. Mit moderner Elektronik arbeiten nur zwölf Prozent der Stellwerke, auch wenn diese im Verhältnis einen sehr viel größeren Anteil der Streckenkilometer bedienen. Elektronische Stellwerke bieten die Möglichkeit präziser Warnungen und Fehlermeldungen.

Auf lange Sicht will die Bahn komplett auf sie umrüsten. Von 2015 bis 2018 würden allein in dem Bereich vier Milliarden Euro in Modernisierungen und neue Technik investiert. Unabhängig davon sieht die Bahn nach eigener Auskunft keinen Anlass, aus dem Unglück Konsequenzen zu ziehen, da die bestehende Technik funktioniert habe und laut Urteil nicht Ursache war. Auch eine Nachrüstung mit Empfangserlaubnismeldern ist demnach nicht geplant.

Was Gespräche mit Opfern betrifft, stehe man mit den Anwälten in Kontakt. Opfer-Anwalt Schweikert beteuert, er bitte seit langem "gebetsmühlenartig" um ein solches Gespräch - ohne Erfolg. Dabei wünschten sich seine Mandanten "oft nur Ansprache" von der Bahn. Um möglichst viel Geld gehe es nicht. Trotzdem bereitet er eine Klage auf Schadenersatz gegen den Konzern vor.

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SZ vom 09.02.2017
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