Das Zugunglück mit elf Toten nahe Bad Aibling hätte verhindert werden können, wenn die beteiligten Triebwagen mit dem Sicherungssystem RCAS ausgestattet gewesen wären. Das sagt Professor Thomas Strang, der das System am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen entwickelt hat. Und das sagt auch Heino Seeger, der bis Ende 2012 Chef der Bayerischen Oberlandbahn (BOB) war.
Seeger hat das RCAS in seiner Zeit als BOB-Chef auf deren damaligen Strecken getestet. "Das RCAS ist die Antwort, um fürchterliche Kollisionen wie in Bad Aibling zu verhindern", sagt Seeger. "Ich bin sicher, dass dem RCAS die Zukunft gehört." Die beiden in Bad Aibling verunglückten Züge wurden von der BOB unter der Marke Meridian betrieben.
Wie das Sicherheitssystem funktioniert
Das Kürzel RCAS steht für "Railway Collision Avoidance System", also für Zugkollision-Verhinderungssytsem. "Dabei handelt es sich um eine Technik, die völlig unabhängig von den Sicherungssystemen entlang der Zugstrecke funktioniert", sagt Entwickler Strang. Geräte in den Loks zeichnen während der Fahrt alle möglichen aktuellen Daten des Zuges auf, zum Beispiel die Fahrtrichtung, die Geschwindigkeit und die Bremsbedingungen. Über Funk stehen die Geräte in Kontakt und gleichen diese Daten miteinander ab.
"Wenn nun zwei Züge, aus welchen Gründen auch immer, so nahe aneinander geraten, dass ein Zusammenstoß droht, wird in den Ständen der Lokführer ein Alarm ausgelöst, der diese zu einer sofortigen Notbremsung auffordert", sagt Strang. "Als wir das RCAS entwickelt haben, hatten wir die Verhinderung von exakt solchen Unfallszenarios wie in Bad Aibling im Hinterkopf."
Nach dem bisherigen Ermittlungen geht das Unglück vom Dienstag vergangener Woche auf den Fehler eines 39-jährigen Fahrdienstleiters zurück. Der Mann soll einen verspäteten Zug auf die eingleisige Strecke zwischen Bad Aibling und Kolbermoor geschickt haben, obwohl er dies nach Überzeugung der Ermittler nicht hätte tun dürfen. Der Fahrdienstleiter bemerkte seinen Fehler zwar noch und setzte zwei Notrufe ab, die sich auch an die beiden Lokführer richteten. Sie kamen aber zu spät, um den Zusammenstoß zu verhindern.
Was die BOB zum Einsatz des Systems sagt
"Das RCAS hat den großen Vorteil, dass es unabhängig von allen anderen Sicherungssystemen funktioniert", sagt der Bahnexperte Seeger. "Es eignet sich deshalb besonders als Vorsorge gegen menschliches Versagen."
Die BOB-Muttergesellschaft Transdev wollte sich nicht näher zum RCAS äußern. Ein Sprecher betonte aber, dass bei dem Unglück keine Hinweise auf technisches Versagen vorlägen. Eine Ausstattung der Triebwagen mit zusätzlicher Technik, die von Fahrzeug zu Fahrzeug kommuniziert, könne nur dann in Betracht gezogen werden, wenn alle Fahrzeuge, die auf der betreffenden Strecke verkehren, mit der Technik ausgestattet seien. Grundsätzlich sei das Eisenbahn-Bundesamt die zuständige Aufsichtsbehörde, die Sicherungssysteme für den Einsatz im Eisenbahnverkehr zulässt und den Betreibern vorschreibt.
Hierfür sei aber zunächst die Freigabe auf europäischer Ebene nötig, denn die EU-Mitgliedstaaten dürfen keine neuen technischen Sicherungssysteme für Eisenbahnfahrzeuge vorschreiben und somit zur Voraussetzung für den Netzzugang machen. Das würde dem freien Netzzugang widersprechen, der nach europäischer Gesetzgebung sichergestellt werden müsse. Klaus-Dieter Josel, der Chef der Bahn in Bayern, äußerte sich am Donnerstag vor dem Verkehrsausschuss des Landtags ähnlich.
Was im Kopf des Fahrdienstleiters vorging, der den Unfall bei Bad Aibling verursacht hat, lässt sich bisher nicht sagen. Was aber bis zum Zusammenstoß technisch ablief, ist inzwischen allerdings weitgehend geklärt. Wie alle Regionalzugstrecken in Deutschland ist die Trasse zwischen Bad Aibling und Kolbermoor mit einer Punktförmigen Zugbeeinflussung (PZB) ausgestattet.
Am Anfang und Ende des Streckenabschnitts sind Achszähler montiert. Diese erfassen, wenn ein Zug in den Abschnitt einfährt, und sperren die Strecke für alle anderen Züge. Die Signale zeigen dann rot. Erst, wenn der Zug am anderen Ende vollständig hinaus gefahren ist, wird die Strecke wieder frei.
Der Fahrdienstleiter hatte allerdings den Lokführer des entgegenkommenden Zugs angewiesen, in den gesperrten Abschnitt einzufahren. Das geschah durch ein Ersatzsignal, einem zusätzlichen weißen Licht neben oder unter dem roten Haltesignal. Beim Überfahren des roten Signals würde der Zug durch die PZB trotzdem abgebremst. Erst, wenn der Lokführer das Ersatzsignal per Knopfdruck bestätigt, wird die Zwangsbremsung deaktiviert, und er kann weiterfahren.
Warum der Lokführer wohl trotzdem losfuhr
Warum hat der Lokführer nicht noch einmal per Funk beim Fahrdienstleiter nachgefragt, bevor er losfuhr? Er wusste ja, dass es sich um eine eingleisige Strecke mit Gegenzügen handelt. "Es gehört zum Alltag eines Lokführers, bei einem Ersatzsignal rauszufahren", sagt Uwe Böhm, Bayern-Chef der Gewerkschaft der Lokführer (GDL). Was eigentlich für Ausnahmefälle vorgesehen ist, kommt in der Praxis immer wieder vor.
Die Weichen, Signale und Drähte an den Gleisen seien fehleranfällig, sagt Böhm. Daher müsse immer wieder ein Ersatzsignal gesetzt werden. "Da reicht es schon, wenn eine Glühbirne ausfällt." Die Lokführer würden in so einem Fall also nicht lange überlegen. Auch die Vorschriften verlangen keine zusätzliche Rücksprache mit dem Fahrdienstleiter.
Das Zugunglück beschäftigte am Donnerstag auch den Verkehrsausschuss im Landtag. Der CSU-Verkehrspolitiker Eberhard Rotter warnte vor voreiligen Schlüssen. Der Vorschlag etwa, auf Stellwerken das Vier-Augen-Prinzip einzuführen, sei nicht durchdacht. Dann müsste man mehrere tausend Fahrdienstleiter neu einstellen. Man könne aber überlegen, ob Fahrdienstleiter sich vor dem Stellen eines Ersatzsignals mit den Lokführern kurz abstimmen müssen.