Wenn die Großmutter von Alexander Schmidt rückblickend von ihren Besuchen bei den NS-Reichsparteitagen erzählte, ist Schmidt das oft ein ziemliches Rätsel geblieben. Ein ausgesprochen nette Frau war seine Oma, auf angenehme Weise unpolitisch und ohne jeden Anflug von Antisemitismus, so hat er sie erlebt. Natürlich, Schmidt kannte die NS-Ruinen im Süden der Stadt, was aber die Faszination dieser Tage - auch für seine Großmutter - ausgemacht haben soll, das wollte sich ihm nicht erschließen: Einen bröckelnden Riesensteinhaufen namens Zeppelintribüne sah er, davor Football spielende US-Soldaten und Frittenverkäufer.
Die systematische Trivialisierung des NS-Erbes ist seit Jahrzehnten Programm in Nürnberg. Und keine Frage, sie ist gelungen: Neonazis lassen sich auf dem Gelände nicht mehr blicken. "Aber wir müssen auch dokumentieren, was die Faszination dieser Tage ausgemacht hat, wie dort Macht inszeniert wurde", sagt Schmidt, "Steinhaufen allein erzählen davon zu wenig." Schmidt ist Historiker am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, davor war er lange beim Verein "Geschichte für Alle" tätig, einer Gruppe von Historikern, die Interessierte durch Nürnberg führt, auch über das ehemalige NS-Gelände.
Aus dieser Zeit kennt Schmidt noch die Reaktionen, wenn Gruppen vor der Zeppelintribüne stehen und nach dem "Goldenen Saal" fragen. Die Frage kommt eigentlich immer, erst recht, seit Heinrich Breloer hier Passagen der ARD-Produktion "Speer und Er" spielen ließ: Die Szenen in der Berliner Reichskanzlei wurden in Nürnberg gedreht, im Goldenen Saal. Betreten aber durfte man diesen Saal in den letzten Jahren nicht mehr. Wegen Steinschlaggefahr blieben selbst geführte Gruppen außen vor. Und das, obwohl es genau dieser Saal ist, in dem man wohl am besten zeigen kann, wie die große Verführungsmaschinerie von Nürnberg funktionierte.
Der Saal, im Inneren der Zeppelintribüne gelegen, gilt als das einzige Bauwerk des NS-Architekten Albert Speer, das nicht nur als Torso oder Ruine erhalten geblieben ist. Mit diesem Saal ist Speer, der sich ja vor allem an Reißbrettern und mit nie ausgeführten Baumodellen verewigt hat, tatsächlich fertig geworden. Und in dem Saal begann in den 80er Jahren ein wichtiges Stück deutscher Nachkriegsgeschichte: Hier zeigte die Stadt Nürnberg nach Jahrzehnten des Versteckens und Verdrängens erstmals die Schau "Faszination und Gewalt". So schonungslos hatte sich bis dahin keine andere Stadt ihrer NS-Geschichte gestellt.
Als die Schau ins etwa 800 Meter entfernte, deutlich größere Dokuzentrum in die ebenfalls Torso gebliebene NS-Kongresshalle umzog, blieb der Saal zunächst geöffnet. Als aber immer wieder faustgroße Steinbrocken aus der maroden Fassade der Zeppelintribüne brachen, machte das Bauamt den Saal dicht: Lebensgefahr.
Reichsparteitagsgelände in Nürnberg:Steinerne Relikte des braunen Spuks
Hier hetzte Hitler, hier marschierte die SS, hier feierte die NSDAP ihre Parteitage: 66 Jahre nach Kriegsende stehen viele der monumentalen Nazibauten in Nürnberg noch immer. Bilder des Reichsparteitagsgeländes - damals und heute.
Neuerdings ist über der Holztür, die von der hinteren Seite der Zeppelintribüne in den Saal führt, ein provisorisches Stahlnetz gespannt. Es verhindert, dass Brocken einer Architektur, die eigentlich für 1000 Jahre gedacht war, direkt vor die Tür fallen. Seit das Netz hängt, dürfen Gruppen den Saal wieder besichtigen, allerdings nur am Wochenende. Sie bekommen einen Eindruck vom hohlen Pomp der Diktatur. In zehn Metern Höhe schimmert ein golden eingefärbtes Mosaik, wer länger hinschaut, erkennt, dass es sich zu einem Hakenkreuz-Mäander zusammenfügt. Bis auf eine Feuerschale ist der Raum leer, die Akustik ist entsprechend gespenstisch. Kalt ist der Saal, wie ein Grab. Wer drinnen ist, will vor allem eines: wieder raus.
Schmidt hat sich lange mit der Geschichte des Saales beschäftigt, er weiß, welche Mythen sich um ihn ranken. "Gerade deshalb muss man ihn sich anschauen dürfen", sagt er. In der Tat lösen sich die Mythen gegebenenfalls rasch auf: Es ist zum Beispiel kein Gold dort oben an der Decke, es sind angestrichene Steinchen. Und auch die Mär, dass Hitler sich hier - neben Sekt trinkenden NS-Bonzen - auf Parteitagsauftritte einstimmte, stimmt nicht. Es gibt kein einziges Dokument, kein Foto, keinen Film, das Hitler in dieser Empfangshalle zeigt.
Um seine Verbindung mit den Braunhemden vorzuführen, pflegte der Hauptredner der NS-Tage auf der anderen, auf der den Jublern zugewandten Seite der Tribüne vorzufahren, um von dort die Rednerkanzel zu erklimmen. Insofern ist der Saal klassische Speer-Architektur: Pompös. Kalt. Ziemlich nutzlos. Ein hohler Raum.
Vor dem Zaun mit dem Schild "Steinschlaggefahr" steht ein Tourist aus Luxemburg. Im Reiseführer hat er gelesen, dass Teile der Zeppelintribüne zerbröseln, dass dem Bauwerk in naher Zukunft eine Totalsperrung droht, falls sich nichts tut. "Kann man doch nicht machen", sagt der Luxemburger, "das muss man erhalten, um die Dimension der Gewalt zu dokumentieren." Alexander Schmidt erklärt ihm, dass 70 Millionen Euro für eine Instandsetzung im Gespräch sind. Bund, Land und Stadt verhandeln seit Jahren - aber mit dem Erhalt von Nazi-Architektur tun sich viele schwer.
Der Tourist schüttelt den Kopf. "Versteh' ich nicht wirklich", sagt er. Schmidt schließt dem Touristen den Goldenen Saal auf, auch davon hat der Luxemburger gelesen. Dass der Saal nur mit Führung und nur am Wochenende zu sehen ist , versteht er nicht. "Ihr Deutschen", sagt er kopfschüttelnd. Immerhin: Durch eine Glastür soll der Saal irgendwann einzusehen sein. Allerdings erst dann, wenn aus der Zeppelintribüne keine Steinbrocken mehr fallen.
Termine: www.geschichte-fuer-alle.de