Vielleicht beginnt man den neuen Bildband des Stadtarchivs Nürnberg auf der Seite zehn, beim Kapitel „Nürnbergs Herz: Die Altstadt“. Das Foto dort stammt von Ray D’Addario, einem Mann, dessen Arbeit so ziemlich jede und jeder schon mal wahrgenommen haben dürfte, wenn auch womöglich, ohne das konkret zu wissen. D’Addario war amerikanischer Armeefotograf, nach Ende des Zweiten Weltkriegs baten ihn seine Auftraggeber, nach Deutschland aufzubrechen und dort die Nürnberger Prozesse zu dokumentieren. Viele Hundert Bilder lieferte D’Addario aus Nürnberg, er wurde der Fotograf dieses Welterereignisses schlechthin.
Freilich interessierte sich D’Addario nicht ausschließlich für das, was im Saal 600 passierte. Er richtete seine Kamera auch auf das zeitgenössische Leben in Deutschland, respektive in Nürnberg. Sein Bild vom Hauptmarkt – vorne Konsumenten samt Gemüse aus dem Knoblauchsland, der Schöne Brunnen im Zentrum, im Hintergrund eine Zerstörungskulisse, die eingerüsteten Türme der Sebalduskirche und ein Baukran – steht sinnbildlich für das bevorstehende „Wirtschaftswunder“. Wer genau hinschaut, sieht kritische Käuferinnen und einen abgemagert wirkenden Mann mit Mütze. Alltag in Deutschland, so sah das wohl aus Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre.
Und wie das so ist mit guten Bildern, weist auch dieses über sich hinaus. In Nürnberg tobt dieser Tage ein zunehmend unversöhnlicher Streit darüber, wer, wann, wo, wie oft und unter welchen Konditionen Gemüse unter Freiluftbedingungen feilbieten kann, darf, soll. Ein Blick auf dieses Bild täte allen Beteiligten gut, der Blutdruck sinkt dann ganz von allein.
Überhaupt dürfen die Bildbände dieser Reihe des Nürnberger Stadtarchivs durchaus zur Verschreibung empfohlen werden. „Nürnberg in den Wirtschaftswunderjahren“ (Sutton Verlag, Tübingen 2024) heißt der neue, zuvor sammelte und kommentierte das Archiv Fotos von 1935 bis 1975 (Band 1) und, mit kleiner zeitlicher Überschneidung, aus den Jahren von 1970 bis 1995 (Band 2). Diese drei Bücher lassen einen als Betrachter vielleicht nicht demütig zurück. Aber doch demütiger.
Im neuen Band muss man nur das Rathaus anschauen, aufgenommen im Jahr 1955: eine Fassade, die eher an die besonders ruinösen Teile des Heidelberger Schlosses erinnert als an den zentralen Bau der Stadt.
Verantwortlich für diesen Band zeichnet Ruth Bach-Damaskinos, Sachgebietsleiterin der Bild-, Film- und Tonabteilung am Stadtarchiv. Wer bei ihr anruft, kann sich auf Seite 59 des Bandes vorab ihren Arbeitsplatz anschauen: einen zwischen 1965 und 1969 errichteten Sichtbetonbau, eines der umstrittensten Gebäude überhaupt innerhalb des Altstadtrings.
Bach-Damaskinos kennt die bis heute verbreiteten optischen Bedenken dagegen und den Irrglauben, man spreche deshalb von Brutalismus, weil diese Art des Bauens auf den ersten Blick so brutal ausschaut. „Ich geh’ gern zur Arbeit“, sagt die Archivarin, ihr gefällt’s. Und nicht nur ihr: Längst ist die Architekturgeschichte schwer angetan von Bauten wie dem Stadtarchiv.
Was beileibe nicht auf alles zutrifft, was in jener Zeit entstanden ist. Der Plärrer? Bis heute ein städtebauliches Halbdebakel, trist, schroff, laut, heiß – und immer heißer. Demnächst immerhin soll Hand angelegt werden am Verkehrsdrehkreuz der Stadt, spät genug.