Armut in Bayern:"Die Not ist groß, das lässt sich nicht mehr kaschieren"

Lesezeit: 5 Min.

Schlange vor dem Eingang der Nürnberger Tafel: Seit dem Ukraine-Krieg hat sich die Zahl der Tafelkunden auf 10 400 verdoppelt. (Foto: Thomas Balbierer)

Deutschland wird ärmer, sagt Vizekanzler Robert Habeck. Was das bedeutet, ahnen sie bei der Nürnberger Tafel schon länger - und es macht ihnen große Sorgen. Ein Besuch an der Armutsgrenze.

Von Thomas Balbierer, Nürnberg

Sie hat sich schick gemacht für diesen Einkauf. Die Frau, die sich als Wilma vorstellt, steht in sportlich-eleganter Kleidung vor der Backwarenabteilung und lädt ein paar Semmeln in ihre Tasche. Das Gesicht hat sie am Morgen mit Rouge gepudert, die Wimpern sind getuscht, ein dezenter Lidschatten umspielt ihre Augen. Betrachtet man dazu die feingliedrigen Ohrringe, könnte man meinen, die zierliche Dame sei auf dem Weg zum Fotoshooting für einen Seniorenmode-Katalog - nicht ein Fussel auf der schwarzen Sommerjacke. Doch die 76-Jährige ist nicht unterwegs zu irgendeinem Fotostudio. Sie ist hier, im Ausgaberaum der Nürnberger Tafel, weil sie sonst Hunger leiden müsste.

Seit etwa sechs Jahren kommt die Rentnerin jeden Dienstag zur Tafel und holt sich für zwei Euro pro Besuch, was sie zum Überleben braucht: "Ein wenig Brot, ein wenig Gemüse", sagt Wilma mit leiser Stimme. "Wenn man alleine ist, braucht man ja nicht so viel." Dann lässt sie ein paar Kartoffeln in ihren Beutel plumpsen.

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Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) hat kürzlich ausgesprochen, was sie bei der Tafel in Nürnberg schon länger spüren: Dass Deutschland "buchstäblich ärmer wird". Schon die Corona-Pandemie hat viele Leute hart getroffen; seit dem russischen Angriffskrieg sind auch noch die Energiepreise explodiert, die Inflation treibt die Preise für Nahrung in die Höhe, die Wirtschaft stottert. Deutschland wird ärmer? Für viele in diesem Land heißt das, dass am Ende des Monats etwas weniger Geld übrig bleibt als sonst. Dass der nächste Urlaub schmaler ausfällt, es im Restaurant mal keine Nachspeise gibt.

Für Menschen wie Wilma bedeutet Habecks Prognose, dass sie bald vor dem Nichts stehen könnten. Fast 600 000 Bayern lebten nach offiziellen Zahlen zuletzt an der Armutsgrenze. Das arme Bayern, es wird wachsen.

Die Nürnberger Tafel verteilt Lebensmittel, die von Supermärkten, Großbäckereien und Privatpersonen gespendet werden. Manchmal gibt es auch frische Blumen. (Foto: Thomas Balbierer)

Als man die 76-Jährige vor der Essensausgabe anspricht, schaut sie zunächst scheu zu Boden, schüttelt den Kopf. Nein, nein, sie wolle nicht erzählen, warum sie hier sei, bitte! Die Scham ist allgegenwärtig im ersten Stock des Gewerbegebäudes im Nürnberger Osten. Wie in einer Markthalle stapeln sich hier Kisten voller Milchtüten, Eierschachteln und Brot, auch Plunderteile und Schnittblumen gibt es. Eine junge Mutter steht mit ihrer Tochter händchenhaltend in der Warteschlange. Sie errötet, als man sie anspricht und wendet sich rasch ab. Wer spricht schon gerne über die eigene Armut?

Wilma erzählt schließlich doch: 38 Jahre habe sie erst als Kellnerin, dann als selbstständige Gastronomin gearbeitet, aber nur sehr wenig in die Rentenkasse eingezahlt. Nun bekomme sie nicht einmal 500 Euro Rente, die stocke sie mit der staatlichen Grundsicherung auf. Für die Tafel gilt sie damit als "bedürftig" und darf einmal die Woche abholen, was von Großbäckereien, Supermärkten oder Privatpersonen gespendet wird.

Das Auto verkaufen? "Das ist alles, was ich noch an Freiheit besitze."

Sie sei mit fünf Geschwistern aufgewachsen, erzählt die Rentnerin, habe früh gelernt, mit wenig auszukommen. Doch inzwischen werde die Luft immer dünner: Als sie vor Kurzem für einen gewöhnlichen Einkauf bei Lidl sieben Euro mehr als üblich zahlen sollte, habe sie zum ersten Mal ein Produkt vom Kassenband zurück ins Regal gestellt. Und wenn bald noch weniger Geld da ist? "Dann müsste ich mein kleines Auto verkaufen", sagt die 76-Jährige. "Aber das ist alles, was ich noch an Freiheit besitze."

Beim Friseur sei sie schon lange nicht mehr gewesen, sagt sie, als müsse sie sich für etwas rechtfertigen. Das Styling mache sie zu Hause selbst. Mit ihrem gepflegten Äußeren fällt die Rentnerin in der Tafelschlange aber ohnehin kaum auf. Dem Klischee vom armen zerlumpten Teufel begegnet man in Nürnberg nicht.

"Niemand will sich gerne in Armut sehen lassen", sagt Jakob. Er ist heute zum ersten Mal da, der Schritt zur Tafel habe ihn große Überwindung gekostet. Beim Ankommen habe er sich umgesehen, ob ihn jemand erkennen könnte. "Aber jetzt merke ich, wie nett die Leute sind", sagt der 37-Jährige, während eine Helferin Karotten und Champignons in seine Kunststofftüte fallen lässt. Die Verunsicherung ist ihm dennoch anzusehen.

Früher, erzählt er, sei er in einer Insolvenzkanzlei tätig gewesen, wegen einer Stresserkrankung könne er aber nicht mehr arbeiten. Der Kopf spiele nicht mehr mit. Nun erhalte er eine Erwerbsminderungsrente, "circa 700 Euro". Gerade erst sei seine Miete gestiegen. "Ich merke, wie das Geld wegschmilzt, alles wird teurer." Ob er sich selbst als arm bezeichnen würde? Jakob zögert. Die Armut von heute sei nicht mehr das nackte Elend von einst, als Menschen gar nichts besaßen, findet er. Sie zeige sich heute eher im Kontrast zu dem "Überfluss, der in unserer wohlhabenden Gesellschaft herrscht". Dann sagt er, dass er sich noch immer als Teil der Mittelschicht fühlt.

"Die Kunden, die kommen, verändern sich", beobachtet Edeltraud Rager, Chefin der Nürnberger Tafel. Zum einen sind da die vielen Geflüchteten aus der Ukraine, die seit dem russischen Angriffskrieg Schutz und Nahrung suchen: Fast über Nacht hat sich die Zahl der Tafelkunden in Nürnberg verdoppelt - von 5500 auf 10 400. Nicht nur Rager und ihre mehr als 200 Ehrenamtlichen kamen an ihre Grenzen, überall in Deutschland setzten die Tafeln Hilferufe ab. Augsburg zog vor Kurzem die Notbremse und verhängte einen Aufnahmestopp für neue Kunden.

Edeltraud Rager ist die Projektleiterin der Nürnberger Tafel. (Foto: Thomas Balbierer)

"Das System wackelt ganz gewaltig", sagt Peter Zilles, Vorsitzender des bayerischen Tafelverbandes. "Wir können dem Staat die Aufgabe der Grundversorgung nicht abnehmen." Auch seine Tafel in Bayreuth hatte vor einigen Wochen vorübergehend keine neuen Kunden mehr angenommen. Nach chaotischen Wochen habe man die Lage vielerorts aber wieder unter Kontrolle, sagt Zilles. Grund zur Entwarnung gibt es aber nicht.

"Jetzt kommen viele Alleinerziehende, junge Familien, Rentnerinnen."

Denn was Edeltraud Rager meint, wenn sie von einer neuen Kundenschicht spricht, reicht tief in die Gesellschaft hinein und lässt sich nicht durch ehrenamtliche Überstunden oder großzügigere Öffnungszeiten retten. "Früher kamen zu uns viele Hartz-IV-Empfänger, die es wegen Krankheit, Schicksalsschlägen oder falschen Entscheidungen nicht mehr zurück ins Arbeitsleben geschafft haben", sagt Rager. "Jetzt kommen viele Alleinerziehende, junge Familien, Rentnerinnen." Jene, die es bislang trotz knapper Kasse immer irgendwie über die Runden geschafft hätten, tauchten nun bei der Tafel auf, sagt Rager. "Die Not ist groß, das lässt sich nicht mehr kaschieren."

Die 67-Jährige ist keine Frau pathetischer Worte, eher der Typ Macherin. Vor ihrem Ruhestand koordinierte sie für das Rote Kreuz die Alten- und Pflegeheime in Nürnberg. Sie ist es gewohnt, soziale Schicksale in Anträge, Kostenberechnungen und Logistikpläne zu zerlegen - und dann pragmatisch abzuarbeiten. Aber spricht man mit Rager etwas länger über das große Bild, die soziale Ungleichheit, wirkt auch sie plötzlich etwas ratlos. "Wenn ich hier ältere Frauen sehe, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet und Kinder erzogen haben und jetzt nicht über die Runden kommen - dann finde ich das furchtbar."

Laut dem jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist die Armutsgefährdung älterer Menschen in Bayern mit 21 Prozent die höchste in ganz Deutschland. Besonders Frauen sind demnach betroffen, weil sie oft in Niedriglohnjobs arbeiten oder als Mütter kaum Rentenbeiträge zahlen. "Wir rauschen in eine Welle der Altersarmut hinein", warnt Peter Zilles vom Landesverband der Tafeln. "Wir müssen das ganze Sozialsystem auf den Prüfstand stellen." Die Politik stehe vor einer Riesenherausforderung - mit kleinen Rentenanpassungen oder Mini-Hartz-IV-Erhöhungen sei es nicht mehr getan.

Die 76-jährige Wilma winkt ab, wenn man sie auf die Politik anspricht. Sie habe keine Hoffnung mehr, dass sich für sie etwas verbessern könnte. Und eigentlich komme sie ja ganz gern zur Tafel. "Ich fühle mich hier wohl", sagt sie. Und wirkt auf einmal ganz zerbrechlich.

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