Nürnberg: Prozess gegen U-Bahn-Schläger:Tumulte im Gerichtssaal

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Rangelei ja, aber gegen den Kopf will der mutmaßliche Neonazi sein Opfer nicht getreten haben. Vor Gericht legt ein 24-Jähriger ein Teilgeständnis ab. Doch dann muss der Saal plötzlich geräumt werden.

Olaf Przybilla

Der 18-Jährige, der nach der Schlägerei in der Nürnberger U-Bahn eine Woche lang im Koma lag, kann sich an den Vorfall nicht mehr erinnern. Das sei alles weg, sagt er, auch an die Zeit davor hat er keinerlei Erinnerung mehr, anderthalb Wochen seines Lebens sind einfach so gelöscht. Er hat einen Atemstillstand erlitten an jenem 28. April 2010 in der zentralen U-Bahn-Station "Plärrer", und auch sein Herz ist kurz stillgestanden.

Der wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung angeklagte Peter R. im Nürnberger Landgericht. (Foto: dapd)

Den 24 Jahre alten Neonazi, der sich nun im Saal 600 des Nürnberger Landgerichts dafür verantworten muss, hat er zuvor niemals gesehen, da ist er sich sehr sicher. Aber um was es ging an jenem Nachmittag mitten in Nürnberg? "Ich weiß es nicht", sagt der 18-Jährige.

Der Vorsitzende Richter versucht es mit einer theoretischen Frage. Ob er sich vorstellen könne, einen Menschen, der ein Kleidungsstück der Marke "Thor Steinar" trage, ob er sich also vorstellen könne, so einen Menschen auf der Straße oder in einer U-Bahn zur Rede zu stellen, möglicherweise auch laut?

Der 18 Jahre alte Schüler mit kurdischen Wurzeln antwortet, ja, das könne er sich sehr gut vorstellen. Warum? "Ich finde es falsch, solche Kleidung zu tragen, weil die vorwiegend von Neonazis getragen wird", sagt er. Ob die junge Frau, die später als Zeugin aussagen wird und die an jenem Nachmittag eine Bauchtasche der Marke "Thor Steinar" bei sich trug, tatsächlich eine aktive Rechtsextremistin ist, spielt im Prozess keine Rolle. Ihr Freund aber, der Angeklagte, ist dies zweifelsohne.

Der 24 Jahre alte R. lässt zunächst eine Erklärung verlesen. Seine Begleiterin sei von dem 18-jährigen Deutschkurden in der U-Bahn mit "einer abfälligen Bemerkung" über ihre Kleidung provoziert worden. Es stimme auch, dass er dem damals 17-Jährigen daraufhin mit der Faust ins Gesicht geschlagen habe. Auch sei es danach zu einer Rangelei gekommen. Aber es stimme keinesfalls, dass er den 17-Jährigen nach dem Verlassen der U-Bahn mit dem Fuß auf den Kopf getreten habe. Und dass er sein Opfer mit dem Tritt gar habe töten wollen - wie es die Staatsanwaltschaft annimmt -, das sei "absurd".

Es wird sehr darauf ankommen in diesem Prozess, ob dem Angeklagten nachgewiesen werden kann, dass er sein Opfer tatsächlich noch ins Gesicht getreten hat - wovon die Anklage ausgeht. Der Vorfall im Waggon ist von Kameras festgehalten worden, für die Situation danach gilt das nicht. Hat R., der Kampfsport betreibt, sein Opfer im kleinen Kreis danach eine "Zecke" genannt, will der Richter wissen. "Kann sein", sagt der Angeklagte. Nach dem Vorfall im Waggon habe er den Deutschkurden "schon eher dem linken Milieu zugerechnet".

Das fällt auf, wenn der 24-Jährige sich äußert: Er redet mit Bedacht, er gibt sich freundlich, achtet auf Begriffe. Als der 18-Jährige den Saal 600 betritt, ergreift R. das Wort: "Ich möchte mich in aller Form entschuldigen für die Auseinandersetzung und vor allem für die schweren Folgen." Der Deutschkurde musste nach dem Koma mehrmals operiert werden. Er kann nicht mehr als 20 Minuten ohne Schmerzen gehen oder stehen, er leidet an Depressionen und Angstzuständen. "Das tut mir wirklich leid", sagt R.

Im Schwurgerichtssaal wird es ruhig während der Verhandlung. Ein "Komitee" hat zuvor dazu aufgerufen, die Sitzplätze im Saal 600 - in dem Göring und Ribbentrop verurteilt wurden - zu besetzen, damit Unterstützer von R. aus der rechtsradikalen Szene nicht in den Saal gelangen. Tatsächlich stehen vor der Tür Bekannte von R., adrett angezogene junge Menschen.

Bei den Staatsschützern ist R. als ein Neonazi aktenkundig, als einer derjenigen, die sich im "Freien Netz Süd" organisieren und etwa die Kundgebungen von Rechtsradikalen in der oberfränkischen Kleinstadt Gräfenberg ins Leben gerufen haben.

Das ist wohl auch der Grund, warum die Klageschrift von der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft stammt. Und es ist der Grund für die angeheizte Stimmung. Als später auch Unterstützer von R. in den Saal wollen, fordert der Richter dazu auf, wenigstens zwei Sitzreihen frei zu machen. Es kommt zu Wortgefechten, das Gericht lässt den Saal 600 daraufhin räumen.

© SZ vom 18.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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