Süddeutsche Zeitung

Bewerbung zur Kulturhauptstadt:"Wo seid ihr eigentlich?"

Nürnberg möchte Kulturhauptstadt werden, doch wegen Corona verläuft die Bewerbung weitgehend im Verborgenen. Bewerbungschef Hans-Joachim Wagner musste seine Pläne ändern.

Interview von Olaf Przybilla, Nürnberg

Am Montag wird das zweite Bewerbungsbuch vorgestellt, mit dem Nürnberg Europäische Kulturhauptstadt werden will. Ein Gespräch mit dem Bewerbungschef Hans-Joachim Wagner.

SZ: Herr Wagner, Sie hatten sich vermutlich auf einen ganz anderen Bewerbungsprozess eingestellt. Ohne Corona.

Hans-Joachim Wagner: In der Tat sahen die Pläne komplett anders aus. Wir hätten die Idee dieser Bewerbung noch intensiver in die Stadt hineintragen und die Menschen emotionalisieren wollen: große partizipative Projekte, Veranstaltungen im öffentlichen Raum. Alles hinfällig. Es war nicht leicht, den Bewerbungsprozess so im Bewusstsein zu halten. Manche haben uns gefragt: Wo seid ihr eigentlich? Verständlich: Wir sind quasi unsichtbar geworden.

Sie mussten von vorne anfangen?

Es waren Workshops geplant, Tagungen, ein Austausch mit dem irischen Galway, derzeit Kulturhauptstadt. Konnte alles nicht stattfinden, respektive nur digital.

Galway?

Ein Musikfestival dort widmet sich mittelalterlicher Musik, wir in Nürnberg haben mit dem früheren Egidienkloster ein sogenanntes Schottenkloster. Im Mittelalter haben Mönche von der Insel in Nürnberg Halt gemacht. Wäre ein interessanter künstlerischer Anknüpfungspunkt gewesen. Für Galway und Rijeka, die aktuellen Kulturhauptstädte, ist Corona geradezu tragisch.

Apropos tragisch. Ein Ziel jeder Bewerbung ist es, dass eine Stadt für diese Idee angezündet wird. Wie soll man jemanden anzünden, wenn gar nichts brennen darf?

Eine riesige Herausforderung, vor der aber alle Bewerber stehen. Die Alternativen können natürlich nicht ersetzen, was mal angedacht war. Wir haben die Aktivitäten zum Teil ins Netz gelegt, etwa mit dem "Stream Forward": ein Aufruf, uns für eine Aufwandsentschädigung Mitschnitte von Konzerten, Lesungen, Performances zu schicken. Ein Tropfen auf den heißen Stein, klar. Aber als Signal war es uns wichtig.

Im ersten Bewerbungsbuch Nürnbergs wirkte das Thema ehemaliges NS-Kongresszentrum, das sogenannte Kolosseum, doch recht versteckt. Bleibt das so?

Das Thema ist ein zentraler Punkt, dabei aber dürfen wir nicht stehen bleiben. Genauso zentral ist es, dass wir den Blick von Nürnberg hin zu den Opferorten weiten, etwa zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Das ist nun sehr viel expliziter ausgeführt. Auch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte in und um Nürnberg wird dezidierter formuliert, genauso wie die Frage: Was ist hier verloren gegangen?

Was ist mit der Kongresshalle geplant?

Ich möchte die Bewerbung keinesfalls darauf reduziert wissen, aber natürlich spielen die Pläne eine zentrale Rolle. Im partizipativen Prozess sollen dort Räume für die Kulturszene geschaffen werden. Die Herausforderung ist es, diesen Ort, der auch ein Unort ist, als urbanen Raum neu zu denken. Aktuell liegt das Areal eher am Stadtrand. Nun soll ein Begegnungs- und Austauschort entstehen. Es kann eben nicht darum gehen: Wir schaffen da ein paar Ateliers und die Künstler machen dann mal.

Einen Vorgeschmack gab es ja bereits. Ein Regisseur hat dort - ohne Publikum - Wagners "Meistersinger" inszeniert. Das Projekt hat hohe Wellen geschlagen.

Hat mich nicht überrascht. Vor einer dezidierten inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gelände hat man sich bislang ja gescheut. Es ist unsere zentrale Aufgabe, diese Auseinandersetzung mit den Mitteln von Kunst und Kultur in den Mittelpunkt zu stellen. Ich bin da ganz auf der Seite unserer Kulturbürgermeisterin Julia Lehner: Dieses Gelände ist eine Provokation - und der müssen und wollen wir uns stellen.

Ursprünglich sollte die Jury am 23. Oktober für neun Stunden in Nürnberg sein.

Wir hatten natürlich vieles geplant, nun wird das ein virtueller Städtebesuch. Wichtig ist es, der Jury ein Gefühl zu vermitteln, wie Nürnberg atmosphärisch funktioniert. Nürnberg lebt von den Widersprüchen, denen man auf Schritt und Tritt begegnet.

Am 28. Oktober fällt die Entscheidung. Seltsamerweise spürt man in Nürnberg, der fränkischen Mentalität entgegen, durchaus Optimismus. Woran liegt's?

Die Beobachtung stimmt. Ich glaube, wir waren trotz Corona in einem sehr guten Austausch mit der Szene. Und Politik und Verwaltung sind sich einig, dass Kunst und Kultur in Nürnberg vorangebracht werden soll. In dieser Deutlichkeit ist das neu.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2020/vewo
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