Kommunalwahl:Nürnberger Zeitenwende

Nüernberg Silhouette Bayern 1 ET 15.2.2020

In Nürnberg leben 145 000 über Sechzigjährige, ein Kandidat, der da nicht ankommt, dürfte es schwer haben. Illustration: SZ, Adobe Stock/SimpLine

Der Abtritt von SPD-Oberbürgermeister Ulrich Maly ändert alles: Neben der CSU können sich erstmals auch die Grünen Hoffnungen machen.

Von Olaf Przybilla

Wer wissen will, wie markant die Zäsur sein könnte, die der 15. März in Nürnbergs Nachkriegsgeschichte setzen wird, der muss sich mit Achim Mletzko unterhalten. Mletzko, 63, ist das Gesicht der Grünen in Nürnberg. Seit 2012 führt er die Fraktion im Stadtrat, er hat sich einen Ruf erworben als strategisch profilierter Kopf, ein gescheiter Pragmatiker, der tief in den Themen drinnen ist, den Faden aber selten verliert. Mletzko, sagen viele im Rathaus, hätte man sich gut vorstellen können als Oberbürgermeister von Nürnberg. Und Mletzko hat es versucht, bei der Wahl 2014 ist er angetreten als Kandidat der Grünen. Sein Ergebnis vor sechs Jahren: 1,7 Prozent.

In Worten: einskommasieben. Das klang nicht nach Basis für einen Machtanspruch. Genau eine Periode später wollen die Grünen in Nürnberg zumindest in die Stichwahl kommen. Und es gibt nicht wenige, die nicht ausschließen mögen, dass die Grünen am Ende gar die Oberbürgermeisterin stellen könnten. Im Ernst jetzt - nach 1,7 Prozent vor sechs Jahren?

Kurzer Rückblick, um eine Idee davon zu bekommen, dass es womöglich nicht an der Person Mletzko lag, dass er ergebnismäßig dort gelandet ist, wo gemeinhin die "Sonstigen" subsumiert werden, kurz vor den politischen Sektierern. Es wäre nämlich übertrieben, würde man behaupten, dass Mletzkos grüne Vorgänger beträchtlich erfolgreicher waren. Ja, Brigitte Wellhöfer holte 2002 mehr als Mletzko. Freilich nicht deutlich, lediglich 0,2 Prozentpunkte. Ihrer Nachfolgerin Christine Seer wiederum gelang es sechs Jahre später nicht ganz, diesen Achtungserfolg zu wiederholen. Sie kam 2008 auf 1,5 Prozent, noch weniger also als später Mletzko. Man könnte das alles so zusammenfassen: Die Zahl der Nürnberger, die sich jemanden von den Grünen als Stadtoberhaupt vorstellen konnten, war bei den ersten drei OB-Wahlen im 21. Jahrhundert absolut stabil. Sie lag zwischen 1,5 und 1,9 Prozent.

Was zur Frage drängt, was man mit einem gemacht haben würde, der 2014 prognostiziert hätte, dass sich bei der nächsten OB-Wahl in Nürnberg eine Grüne Hoffnungen auf den Sieg machen wird. Man hätte so jemandem vermutlich Hilfe angeboten (und hätte das nicht nett gemeint).

Andererseits: Wie kann das überhaupt sein, dass die Grünen in Bayerns zweitgrößter Stadt bislang so abgeschmiert sind - während das "rot-grüne Milieu" in der größten Stadt, in München, in dieser Zeit eine politische Epoche geprägt hat?

Mletzko holt tief Luft, es ist immerhin seine politische Zeit, in der sich das so zugetragen hat. Es folgen dann keine feinziselierten soziologischen Erörterungen über die Unterschiede wahlberechtigter Großstädter südlich und nördlich der Donau. Sondern erst mal nur zwei Worte zur Begründung: "Ulrich Maly". So leid's ihm tue, das so formulieren zu müssen, sagt der Grünen-Chef im Stadtrat, aber dieser Maly sei "ein Grünenfresser allererster Güte".

Und ja: Er, der noch amtierende OB, genieße einen "exzellenten Ruf", sei "unwahrscheinlich beliebt", überzeuge durch Charme, Charisma, Fachkenntnis. "Maly hat wirklich alles", sagt Mletzko, "aber eines ist er auf gar keinen Fall: ein Grüner." Und das sei eben das Problem der Grünen gewesen in den vergangenen 18 Jahren.

Moment. Wenn ein OB für ökologische Fragen nur in überschaubarem Rahmen entflammbar ist - wäre das nicht gerade eine Chance gewesen, diese Leerstelle zu füllen? Klar, sagt Mletzko, theoretisch schon. Praktisch aber hätten die Parteigänger der Grünen auf alle Versuche, den roten OB nur sanft anzurempeln, hochsensibel reagiert. Zunächst haben die Grünen den OB dann trotzdem kritisiert, barsch sogar, das Echo war verheerend. Später beschränkte man sich auf Maly-Nadelstiche in möglichst homöopathischen Dosen. Für den Ruf der Stadt-Grünen war das gut. Für den Erfolg bei Wahlen eher nicht. 1,7 Prozent.

Und nun, sechs Jahre später, bei der ersten Nach-Maly-Wahl? Mletzko ist im Wahlkampfmodus, klar, auch wenn er mit 63 Jahren nicht noch mal antritt als OB-Kandidat. Aber es klingt nicht nach Politgeklingel, wenn er sagt: "Ich bin überzeugt, absolut überzeugt davon, dass die Grünen gegen die CSU in die Stichwahl kommen."

Ein "gutes" Bauchgefühl bei der SPD

Läge Mletzko richtig, so würde das bedeuten, dass die SPD - die historische Nürnberg-Partei schlechthin - raus wäre aus dem Reigen. Im ersten Wahlgang. Überholt von den 1,7-Prozent-Grünen.

Das kann, nach allen Regeln politischer Arithmetik, eigentlich nicht sein. 2014 lag nach dem ersten Wahlgang der Sieger, Sozialdemokrat Maly, 43 Prozentpunkte vor dem Zweiten, einem CSU-Mann. Maly bekam beinahe dreimal so viele Stimmen wie jener Zweitplatzierte - und fast 40-mal mehr Stimmen als der Bewerber der Grünen, eben jener Achim Mletzko. Und das soll sich nun angeblich in der ersten Wahl nach Maly einfach so drehen?

Verlässliche Erhebungen gibt es nicht. Auf eine Telefonumfrage vor der Wahl, sagt SPD-Kandidat Thorsten Brehm, 35, habe man verzichtet. Heutzutage einen repräsentativen Ausschnitt am Festnetz zu bekommen, halte er für utopisch. Brehm ist diplomierter Sozialwissenschaftler, er dürfte das einigermaßen einschätzen können. Und das Bauchgefühl? Ist "ein gutes", sagt Brehm. So sagen das auch Marcus König, der CSU-Bewerber, und Verena Osgyan, die Kandidatin der Grünen. Aber darin sind sie sich auch einig: Alles ist offen.

Eine Stichprobe beim Stadtseniorenrat, wo die drei Bewerber gegeneinander antreten. In Nürnberg leben 145 000 über Sechzigjährige, ein Kandidat, der da nicht ankommt, dürfte es schwer haben. Für Osgyan ist der Auftritt bei den Senioren im alles andere als grün-akademisch geprägten Stadtsüden gewiss kein Heimspiel, dem Applaus nach aber liegt die Diplom-Designerin auch dort gleichauf mit ihren beiden Konkurrenten. Die Bewerber gehen - das ist der eingeübte Ton in der Nürnberger Stadtpolitik - betont pfleglich miteinander um, man duzt sich. Nur bei einem Thema wird es ruppig auf dem Podium. Da geht es um mehr Grün in der Stadt.

Osgyan sagt, "das treibt mich um, dieses Thema", was sie aber nicht eigens betonen müsste. Die 48-Jährige redet sich regelrecht in Rage: Die "wenigsten Straßenbäume bundesweit" habe Nürnberg, die "schlechteste Grünflächenpflege", ein ungenügendes Radwegenetz, zu wenig Luftschneisen. Sie sagt es so nicht, aber man kann es heraushören aus ihrer fein getupften Philippika: Das nun, liebe Nürnberger, ist das Erbe dieser Maly-Zeit.

Das wiederum lässt Brehm, nebenher jüngster SPD-Chef in Nürnbergs Historie, nicht auf der Stadtregierung sitzen. Er müsse nun schon mal einwerfen, entgegnet er, dass Nürnberg, diese historische Reichsstadt, eben keine herzoglichen Grünflächen zum Lustwandeln angelegt habe. Im Übrigen stellten die Grünen seit zwölf Jahren den Umweltreferenten.

Was so stimmt, in Nürnberg sind die großen Parteien alle an der Stadtregierung beteiligt. Als es aber 2014 nach der Wahl darum ging, wer auch im Stadtrat miteinander kooperiert, rechneten fast alle mit einem rot-grünen Bündnis im Plenum - es gab ja nun eine Mehrheit, zusammen hatten SPD und Grüne mehr als 53 Prozent. Es kam aber anders: Mletzko wird den Tag nicht vergessen, von dem er dachte, er würde nach zähen Verhandlungen endlich ein rot-grünes Bündnispapier unterzeichnen. Nachmittags sollte das sein. Vormittags aber wurde das rot-schwarze Bündnis erneuert. Die Grünen waren draußen. Seither sagt Mletzko das Wort "Grünenfresser" über Maly mit noch mehr Inbrunst.

Proteste von grüngesinnten Sozis? Gab's 2014 kaum. Ein leises Murren schon, mehr aber nicht. Der OB wollte es eben so, Punkt. "Das war damals eine Weggabelung", ist die Landtagsabgeordnete Osgyan überzeugt, die SPD sei damals falsch abgebogen. Sechs Jahre später - am Wort "Klimakrise" kommt in den ebenso baumfreien wie stickigen Gassen der Nürnberger Altstadt zumindest im Sommer keiner mehr vorbei - hoffen die Grünen, dass den Sozis das nun nachhaltig auf die Füße fallen wird. Aber klar: Man weiß es nicht.

Am entspanntesten scheint der CSU-Mann König, 39, den Dingen entgegenzusehen. Er hat sich 2019 als einer der ersten beim Volksbegehren Artenvielfalt eingetragen, als man in der CSU noch bestenfalls beargwöhnt wurde dafür. Aus der Zeit trägt der Bankkaufmann den Spitznamen "Bienen-König", beim beherrschenden Wahlkampfthema hat er da komfortable Karten. Dass er nach einer Folge erniedrigender OB-Wahl-Debakel für die CSU fast nur als moralischer Sieger vom Platz gehen kann, weiß er. Und womöglich ist ja sogar mehr drin. "Vielleicht wäre es für die Stadt kein Fehler", sagt König, "bald einen Markus in München zu haben und einen Marcus in Nürnberg". Mit dem Spruch kommt er momentan ziemlich gut an.

Zur SZ-Startseite
Stichwahl Oberbürgermeister München

Kommunalwahl 2020
:Die komplizierteste Wahl Bayerns steht an

Am Sonntag sind im Freistaat Kommunalwahlen. Wie funktionieren sie? Worauf müssen Wähler achten und warum sind die Stimmzettel so groß? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: