Die sagenhaft unverwüstliche Elke Heidenreich beginnt ihren Bestseller „Altern“ mit einem Kniff, der so einfach und genial zugleich ist, dass sich das so offenbar keiner getraut hat zuvor.
Erste Seite: „Ich habe mein Leben komplett in den Sand gesetzt.“ Heidenreich beschreibt, wie sie kein nettes Kind war. Wie sie zu Pflegeeltern in ein gefühlskaltes Pfarrhaus kam. Wie sie ihr Studium nach zwölf Semestern abgebrochen hat. Wie sie krank wurde, Lungenoperation. Wie sie zu früh geheiratet hat, Scheidung. Wie später die zweite Scheidung folgte, schwere Krankheit. Und wie sie die beste TV-Sendung, die sie je gemacht hat, „Lesen“ im ZDF, in den Sand gesetzt hat. Sie hatte das ZDF einen kulturlosen Haufen genannt.
Zweite Seite: „Ich hatte ein unfassbar wunderbares Leben.“ Heidenreich beschreibt, wie sie von Zweiten Weltkrieg kaum noch etwas mitbekommen hat. Wie sie in einem großen Pfarrhaus aufgewachsen ist mit Bildung, Büchern, Klavierunterricht – in einer Demokratie ohne Krieg. Wie sie bis heute befreundet ist mit dem ersten Scheidungs-Mann. Wie ihre zweite Ehe sehr lange hielt. Wie sie eine schöne Arbeit beim Fernsehen hatte, viel Geld verdient hat und viel Erfolg hatte mit „Lesen“. Schönes Haus, netter Hund, keine Sorgen, hochbegabter Partner.
Dritte Seite: „So. Und nun suchen Sie sich aus diesen beiden Lebensversionen doch bitte eine aus.“
Alles hat zwei Seiten – was für eine Kalenderweisheit, könnte man sagen. Stimmt ja auch. Ist aber trotzdem nicht banal. Und trifft mitunter so aufdringlich zu, dass man fast zwingend zur Heidenreich-Methode greifen muss. In Nürnberg zum Beispiel und seiner Innenstadt.
These: Das Zentrum von Nürnberg verlottert zusehends. In der Breiten Gasse, einer der Fußgängerzonen der Stadt, braucht man allmählich stimmungsaufhellende Mittel. Das Ambiente ist verranzt, das Publikum unleidig, das Angebot gehetzt („Alles muss raus“), die Schaufenster zunehmend verklebt: Leerstand. Das eine ehemalige Einkaufszentrum dämmert vor sich hin, davor bieten lediglich ein paar Häkelarbeiten Trost. Das andere Einkaufszentrum in direkter Nachbarschaft, der ehemalige Kaufhof, wirkt wie ein Konsum-Mahnmal.
Wohin das Auge schweift: Tristesse in Nachkriegsarchitektur. Touristen? Och, Bamberg und Regensburg sind doch auch ganz schön.
Antithese: Das Zentrum von Nürnberg ist so reizvoll, dass es mitunter am Zuspruch zu ersticken droht. Beim Bardentreffen, dem großen Festival der Weltmusik, wird die Innenstadt ebenso zuverlässig gestürmt wie bei der Blauen Nacht oder beim Stadtflohmarkt.
Beim evangelischen Kirchentag war die Stimmung 2023 regelrecht euphorisch. Und wie auch nicht? Eine so große, weithin verkehrsberuhigte City, umgrenzt von meterhohen Mauern einer ehemaligen Stadtbefestigung, gibt’s so in ganz Europa nicht. Eine kapitale Kaiserburg inmitten einer Halbmillionenstadt auch nicht. Und der Burgberg wird immer attraktiver: Wem es an einem lauen Sommerabend rund um Weinmarkt und Tiergärtnertor überhaupt nicht gefällt, der dürfte einen Optiker seines Vertrauens gerne mal um Abhilfe anfragen.
Synthese: Es bleibt kompliziert. Wie bei Frau Heidenreich.