Glauben:"Dafür ist jetzt die Zeit"

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Erstmals seit Ende der Corona-Pandemie treffen sich Zehntausende evangelische Christen in Nürnberg wieder zu einem Kirchentag. Vom 7. bis 11. Juni werden etwa 100 000 Besucher in der mittelfränkischen Stadt zum 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag erwartet. (Foto: Thomas Lohnes/imago/epd)

Was beim 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag zählt? Vor allem die persönlichen Begegnungen, sagen Besucher. Bundespräsident Steinmeier prägt den Auftakt in Nürnberg aber auch politisch.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Nein, beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1979 war Stefan Ark Nitsche nicht in Nürnberg, da war er noch am Wiener Burgtheater als Regieassistent tätig. Von der Kirche, sagt er am Vorabend des 38. Kirchentags am Burgberg in Nürnberg stehend, sei er zu der Zeit maximal weit entfernt gewesen, mental. Den Kirchentag von 1993 dagegen, den habe er sehr wohl erlebt und in konkreter Erinnerung. Kein Wunder: In seiner persönlichen Geschichte hat das Glaubensfest in München einen nicht unwesentlichen Niederschlag gefunden. Und sogar in die Kirchengeschichte ist sein Besuch eingegangen, ein bisschen wenigstens.

Übertrieben? Eher nicht. Elisabeth Hann von Weyhern war zu der Zeit als persönliche Referentin an der Spitze der evangelischen Kirchenverwaltung beschäftigt, das Münchner Glaubensfestival galt als Herausforderung. Gelingt es, in der ja nicht aufdringlich protestantisch dominierten Landeshauptstadt den Marienplatz mit beschwingten Menschen zu füllen? So wie der FC Bayern, jedenfalls theoretisch. Bei der Vorbereitung erinnerte sie sich an einen jungen Vikar, den Hann von Weyhern unterm Rubrum "Brandauer-Typ von Gräfelfing" abgespeichert hatte. Als talentierten Theatraliker also. Der sagte für München zu. Und schuf schöne Bilder: Auf dem ökumenischen Kirchentagsweg wurden Gläubige mit buntem Tuch miteinander verbandelt, ein gutes Symbol. Einige Jahre später übernahmen beide - Nitsche und Hann von Weyhern - das Amt als Regionalbischof in Nürnberg. 2006 galt es als erstes Bischofsamt weltweit, das sozusagen für ein Paar geteilt wurde.

So ist das beim Kirchentag, sagt Regionalbischof Stefan Ark Nitsche, der inzwischen - anders als seine Ehefrau - den Titel "Emeritus" trägt: "Beim Kirchentag sind die Menschen auf der Straße wichtig, nicht in erster Linie das, was auf den Podien gesagt wird." Wobei, das natürlich schon auch. Seine Frau ist ja noch in Amt und Würden, auf den Nürnberger Kirchentagspodien folglich im Einsatz. Da wäre es schon ehehygienisch nicht von Vorteil, das Gegenteil zu behaupten.

Was er sich erhoffe? "Andere junge Leute treffen"

Andererseits scheint sich Nitsches Beobachtung durchaus mit der Erwartungshaltung von Besucherinnen und Kirchentagshelfern zu decken. Malte Andersen, 17, hat im Zentrum von Nürnberg gerade den falschen U-Bahn-Ausgang erwischt, aber man hilft sich in der Gruppe natürlich aus, Badener halten zusammen. Genächtigt hat er als einer von fast 15 000 Gästen in einer Schule, die zwar an einer Ausfallstraße nach Bayreuth liegt, dafür aber in Blickweite eines burgartig anmutenden Sakralbaus mit dem klingenden Namen "Reformations-Gedächtnis-Kirche". Burgartig, Reformation, Gedächtnis, hätte man schlechter treffen können als zeitgenössischer Protestant beim Kirchentag. Was er sich erhoffe? "Andere junge Leute treffen." Die versammelten Badener am falschen U-Bahn-Ausgang nicken heftig.

Die Folgefrage, ob die Isomatten okay waren für die erste Nürnberg-Nacht, findet noch Anklang. Die zweite, ob das Frühstück angemessen ausgewogen war, eher nicht. "Gab's da auch Wurst?", fragt Andersen, habe man jetzt gar nicht so auf dem Schirm. Eine vorab prägende Debatte in Franken wurde in Heidelberg und Freiburg also offenbar ignoriert. Die angeblich "teils veggie-, teils bio-lastigen Vorgaben des Events" waren in Nürnberg ins Visier der lokalen Fleischerinnung geraten, der Bauernverband legte noch nach: "Wir wünschen uns, dass die Gäste beim Kirchentag beim Essen Wahlfreiheit haben und nicht bevormundet werden." Wird dann aber alles nicht so heiß gegessen: Im Zentrum von Nürnberg, zweifellos eine der herausragenden Wurstkommunen der Republik, sind zumindest am ersten Veranstaltungstag keine akuten Versorgungsengpässe für Ausschließlich-Fleischesser zu erkennen.

Und klar, auch wenn die Menschen auf den Kirchentagsstraßen das Wichtigste sein sollten, bis zu 100 000 werden an den fünf Tagen bis Sonntag erwartet - die Podien sind schon auch nicht irrelevant. Zumal die Eröffnung nicht im Stadion stattfindet, also halbweit draußen - sondern in Nürnbergs guter Stube, dem Hauptmarkt, jenem Platz, der gelegentlich vom Christkind okkupiert wird. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schwärmt dort am Mittwochabend angesichts einer maximal gefüllten Piazza von "einem wunderbaren Anblick", gerade nach den Jahren mit Corona. Der Platz, auf dem die Kirchentagsfarben Grün und Gelb dominieren, hat kurz vorm Eröffnungsgottesdienst sogar geschlossen werden müssen, wegen Überfüllung.

Steinmeier thematisiert den Krieg in der Ukraine

In seiner Rede reflektiert Steinmeier die Kirchentagslosung "Jetzt ist die Zeit", einen Bibelvers. Im Angesicht des Krieges stünden Christenmenschen vor existenziellen Fragen, ohne ausweichen zu können: "Ja, dieser Krieg stürzt uns in ein tiefes Dilemma als Christen." Als "Zeitenwende" hat Bundeskanzler Olaf Scholz - er wird am Wochenende ebenfalls beim Kirchentag erwartet - die Tage nach dem Kriegsbeginn bezeichnet. Steinmeier spricht in Nürnberg von einem "Epochenbruch". Dass Deutsche und Europäer die Ukraine unterstützten: "Dafür ist jetzt die Zeit."

Als Steinmeier ergänzt, "es ist auch Zeit für Waffen", regt sich im Publikum partiell Widerspruch. Der aber hält sich in Grenzen.

Das Wort vom Epochenbruch bezieht Steinmeier auch auf die Folgen des Klimawandels: "Die Schöpfung zu bewahren - auch das gebietet unser Glauben." Jetzt sei die Zeit "der konkreten Schritte, der anstrengenden Arbeit, des wirtschaftlichen Umbaus". Zur Debatte darüber ruft Steinmeier auf dem Hauptmarkt auf, er sei da freilich hoffnungsvoll: "Ich weiß ja, dass ich Euch nicht lange auffordern muss zu diskutieren." Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm erhofft sich vom Christentreffen in Franken ein "Signal der Hoffnung in dieser wunden Zeit", Kirchentagspräsident Thomas de Maizière formuliert: "Der Platz ist voll, unsere Herzen auch." Und: "Nürnberg und Fürth sollen uns mal richtig kennenlernen." Viel Zuspruch.

Zum Kirchentag sieht sich die Stadt Nürnberg zum Teil harscher Kritik ausgesetzt: Ist es für eine hochverschuldete, mit ihrem Haushalt ringende Kommune vertretbar, ein Glaubensevent mit vier Millionen Euro zu bezuschussen? Zumal die Zahl jener, die sich für Glauben interessieren, rasant abnehme. In der Nacht zum Donnerstag füllen Gäste die gesamte Innenstadt, Hauptmarkt, Kornmarkt, Jakobsplatz, Lorenzer und Sebalder Platz, die Altstadtgassen dazwischen - eines der größten verkehrsberuhigten Areale in Europa ist aufs Äußerste belebt, aber kaum irgendwo überfüllt. Das ganz große Straßenfest, imposante Bilder, der Werbeeffekt für die Stadt dürfte entsprechend sein. Gemächlicher geht es am Feiertag los, bleibt aber bunt. Später stören Wolkenbrüche.

Auch wenn der bischöfliche Emeritus Nitsche 1979 in Nürnberg nicht selbst dabei war, er hat so viel gehört darüber, dass er sich ein Bild machen kann. Als dezidiert gesellschaftspolitisches Fest ist dieser Kirchentag in die Geschichte der evangelischen Kirche eingegangen: Um Aufrüstungspläne in Ost und West ging es, um atomare Bedrohung, Krieg und Frieden und natürlich um Umweltschutz. 44 Jahre danach, sagt Nitsche, gehe es nun in Nürnberg nicht zuletzt um exakt das.

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