Süddeutsche Zeitung

Obdachlosigkeit in Nürnberg:Daheim bei Klaus

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Klaus Billmeyer lebt seit acht Jahren auf der Straße. Bei seinen Stadtführungen geht er offen damit um. Nun wohnt er in Bayerns erstem Miniaturhaus für Obdachlose.

Von Claudia Henzler

Klaus Billmeyer macht es den Leuten leicht, Berührungsängste zu verlieren. Er begrüßt die Teilnehmer seiner Stadtführung mit festem Händedruck, dann kommt er recht schnell auf den Sinn der Veranstaltung zu sprechen. "Wir wollen zeigen, dass wir auch noch was können, dass wir noch zu was nütze sind. Auch wenn viele Probleme mit Alkohol oder anderen Dingen haben." Das mit den anderen Dingen betreffe ihn persönlich übrigens nicht. "Ich bin nur Alki."

Wem es angesichts dieser Offenheit nicht die Sprache verschlägt, muss womöglich beim nächsten Satz schlucken. "Ich lebe seit acht Jahren auf der Straße", erzählt Klaus so nüchtern, wie andere von ihrem jüngsten Kurzurlaub berichten. Seine Zuhörer sind diesmal junge Menschen, die alle ein Freiwilliges Soziales Jahr machen und gerade auf Fortbildung in Nürnberg sind. Einer der Jungs macht große Augen. Krass.

Die Gruppe hat eine der Touren gebucht, die vom "Straßenkreuzer" organisiert werden. Der Verein gibt Nürnbergs Obdachlosen-Zeitschrift heraus und wirbt mit dem Leitspruch "Auf uns. Auf euch. Auf Augenhöhe." Dieser Spruch steht auch auf der schwarzen Weste, die Klaus Billmeyer über einer dicken braunen Fleecejacke trägt. "Man muss keine Freundschaften schließen", sagt er seiner Gruppe. "Aber ich kann den Menschen zumindest respektieren." Für die Teilnehmer ist er mit Nachdruck nur "der Klaus".

Während des zweistündigen Spaziergangs führt er nicht zum Christkindlesmarkt und zur Kaiserburg, sondern zu Einrichtungen, die Bürgern in sozialen Schwierigkeiten helfen. Unterwegs berichtet er von seinen eigenen Erfahrungen.

Klaus zeigt zuerst die sozialen Brennpunkte am Bahnhof, Umschlagplätze, Treffpunkte. Hier stehen die Deutschen, daneben die Osteuropäer, hier drüben werden oft Drogen verkauft, weil man schnell abhauen kann. Kurze Anweisung: "Bitte starrt die Leute nicht an."

Weiter zur Bahnhofsmission, eine Oase der Ruhe und der Sauberkeit im Bahnhofstrubel. Der Aufenthaltsraum ist vorweihnachtlich geschmückt, Klaus zieht seine Jacke aus. Das ist wichtig, wenn man auf der Straße lebt, erklärt er den Jugendlichen, sonst friert man später umso mehr. Die Bahnhofsmission macht auch normalen Reisenden Angebote, die einfach mal durchschnaufen wollen, erzählt Klaus und führt in das farbenfroh eingerichtete Spielzimmer für Kinder. Aber die Bahnhofsmission kann auch eine erste Anlaufstelle für Obdachlose sein, die neu in der Stadt sind. Hier können sie sich nach den vielen Hilfsangeboten erkundigen: Wärmestube, Straßenambulanz, Notschlafstellen beispielsweise.

Denn eigentlich müsste niemand auf der Straße leben, sagt Klaus, "Im Grunde gibt es Obdachlosigkeit nicht." Wer seine Wohnung verliert, wird von der Stadt untergebracht - in einem Heim, einer eigens dafür angemieteten Pension oder in einer Wohnung. "Nur: Wenn du in solche Pensionen reingehst, gehst du wahrscheinlich gleich wieder raus." In den Pensionen muss man in Doppel- oder Drei-Bett-Zimmern mit anderen Wohnungslosen zusammenleben, meist mit Toilette und Dusche auf dem Flur. "Wir sind halt nicht immer die reinlichsten", sagt Klaus. "Darum schaut's da entsprechend aus."

Als Wohnungsloser gilt, wer keinen eigenen Mietvertrag hat. Das trifft in Nürnberg auf etwa 1800 Menschen zu. Wegen des angespannten Wohnungsmarktes steigt die Zahl jährlich um etwa fünf Prozent. Die Hälfte ist in Pensionen einquartiert, der Rest teilt sich auf Plätze in betreuten Wohnheimen auf und in städtischen Wohnungen, die vor allem an Familien vergeben werden. Die Zahl der echten Obdachlosen, also jener Menschen, die keine feste Bleibe haben, beläuft sich nach Schätzungen des Sozialamts auf 50 bis 100. Sie alle könnten untergebracht werden, betont auch Sozialamtsleiter Dieter Maly. "Aber es gibt Leute, die lieber auf der Straße leben." Leute, die nicht von Sozialpädagogen betüttelt und bequatscht werden wollen, die öffentliche Hilfen ablehnen. Sobald man in eine der städtischen Unterkünfte zieht, hat man auch wieder mit dem Sozialamt zu tun.

Klaus sammelt lieber so lange Münzen, bis er genug Geld für den Waschsalon hat, als in der Wärmestube zu waschen. Er hat bisher auch wenig Lust, sich mit den Behörden auseinanderzusetzen. "Wir haben das Vertrauen zu euch verloren, zu den Normalos, sag ich immer."

Der Ärger mit der Bürokratie war es auch, der ihn einst auf die Straße gebracht hat. Er hat Pflasterer gelernt, in verschiedenen Jobs gearbeitet, auch als Stapelfahrer bei einer Brauerei. Schwere Arbeit und Alkohol führten zu einem Magendurchbruch. Danach habe ihn das Jobcenter in Frührente schicken wollen, die Rentenversicherung sei anderer Ansicht gewesen. So ging es von Amtsarzt zu Amtsarzt. "Da hockst du in der Wohnung, trinkst immer mehr." Irgendwann war das Geld aus. "Dann bin ich auf die dumme Idee gekommen, auf die Straße zu gehen." Mit seinen Geschwistern hat er heute keinen Kontakt mehr - aber das liege nur an ihm, sagt Klaus.

Anfangs lebte er vom Flaschensammeln; sein Revier war im Süden der Stadt, der Luitpoldhain, in dem im Sommer viele Jugendliche feiern. Geschlafen hat er am Dokuzentrum, die Arkaden von Hitlers unvollendeter Kongresshalle bieten Schutz vor der Witterung. Vor zwei Jahren kam er zum Straßenkreuzer, was sich als Glücksfall erwies. "Seit ich da dabei bin, geht's mir viel besser." Erst verkaufte er nur die Straßenzeitung, später kamen die Stadtführungen dazu. Inzwischen hat er sogar ein eigenes Dach über dem Kopf. Denn als der Verein "Little Home" im November einen Eigentümer für das bayernweit erste Miniaturhaus für Obdachlose suchte, fiel die Wahl auf Klaus. Auch, weil er gut mit Leuten kann und offen mit seiner Situation umgeht. Nicht jeder hätte mit dem großen Medieninteresse umgehen können, Klaus aber zählt amüsiert auf, wo er schon überall zu sehen war. Frankenfernsehen, RTL, BR. "Schau mal in die Mediathek!"

Der drei Meter lange Holzverschlag bietet wenig Komfort, doch er beantwortet für einen Obdachlosen zwei entscheidende Fragen: Wo kann ich schlafen und wo kann ich meine Sachen lassen? Aus Angst vor Diebstahl hat sich Klaus im Laufe der Jahre drei Ausrüstungen - Isomatte, Schlafsack - zugelegt und an unterschiedlichen Stellen versteckt. Nun hat er einen Raum, den er abschließen kann. Noch dazu steht das Häuschen auf einem Grundstück, das durch ein schweres Tor gesichert ist. Er schläft jetzt zwei bis drei Stunden länger als in der Zeit auf Platte, sagt er.

Nürnbergs Sozialamtsleiter Dieter Maly hält das Projekt für "eine ganz schicke Idee für eine private Initiative. Es ist eine Ergänzung zu dem, was wir für diesen Personenkreis anbieten". Ihm gefalle, dass die Häuser ein "Einstieg in den Ausstieg" sein sollen. Noch ist nicht klar, wie weit die Stadt das Projekt unterstützen wird. Derzeit duldet sie die Aufstellung des Häuschens auf einem städtischen Grundstück, das von einer Kultureinrichtung verwaltet wird. Dort können bis zu drei weitere Hütten stehen. Danach müsste ein weiterer Standort gesucht werden. Ein Massenphänomen wird das "Little Home" nach Malys Einschätzung ohnehin nicht.

Sein Holzhaus wurde Klaus zwar geschenkt, ist aber nur als Übergangslösung gedacht. Wenn er eine Wohnung findet, soll er die Hütte an einen Kollegen weitergeben, erzählt er seiner Gruppe. Er sagt auch, dass er spätestens mit 60 nicht mehr auf der Straße wohnen will. Am 23. Dezember feiert er seinen 56. Geburtstag. Vielleicht klappt's schon früher, kann sein. Noch will er keine Pläne schmieden. Eins nach dem anderen. "Wir müssen uns erst einmal wieder an vier Wände gewöhnen."

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Quelle:
SZ vom 23.12.2017
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