Süddeutsche Zeitung

Architektur:Nürnberg zelebriert seine wuchtigen Seiten

Fachwerk, Spitzgiebel und Butzenscheiben? Klar, dafür steht die fränkische Großstadt. Nach 1945 prägten aber auch moderne Stile wie der Brutalismus die Architektur. Die Betonbauten lösten jedoch eher negative Assoziationen aus - folgt nun ein Hype?

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Der schönste Blick auf Nürnberg? Wird Touristen explizit beim Gang auf der westlichen Stadtmauer angepriesen. Nicht zuletzt junges Volk lässt sich sowas nicht zweimal sagen, der Blick über den Tiergärtnertorplatz ist aber auch wirklich instagrammable: zur Linken die Kaiserburg, davor etliche der repräsentativsten Fachwerkhäuser der ehemals freien Reichsstadt, spitze Giebel, Kopfsteinpflaster und im Zentrum des Bildes ein Bratwurstanbieter. Auf der rechten Seite schließt das Albrecht-Dürer-Haus das gepriesene Motiv ab, für viele das Altnürnberger Gebäude schlechthin. Das wäre mal eine Untersuchung wert: Wie viele der von dort aus in die Welt versendeten Selfies den kubusartigen Anbau des Dürer-Hauses einschließen. Ein Prozent dürfte zu hoch gegriffen sein. Wer will schon astreinen Brutalismus auf der Postkarte?

Schade eigentlich, weil ein bisschen darf einen der Blick auf diesen Kubus schon mit Ehrfurcht erfüllen. Wie mutig, konfliktbereit und der Moderne verpflichtet muss eine Zeit gewesen sein, die sich an die Malerwerkstatt des deutschen Meisters einen solchen Bau hinzusetzen traut? Und das ganz bewusst in Vorbereitung auf ein rundes Jubiläum eben dieses Meisters, den 500. Geburtstag Dürers. In den späten Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wagte Nürnberg diesen architektonischen Kontrapunkt, rigoros, und sicher im Bewusstsein, dass er für viele zu rigoros sein wird. Mit dem gebremst charmanten Wort "Kunst-Trafo" wurde der Anbau dann auch belegt, was angesichts des Kontrastes wohl auch hätte schlimmer ausfallen können. Der Anbau birgt heute den "Dürersaal", in dem Gemäldekopien aus vier Jahrhunderten gezeigt werden, jeweils nach Vorlagen Albrecht Dürers. Ausgerechnet in jener maximalen architektonischen Antithese zu des Meisters Werkstatt sind also Kopien von dessen Kunst zu sehen - keine ganz missratene Ironie der Geschichte.

Was der Blick übers Tiergärtnertor auf jeden Fall lehren kann: Nürnberg, dieses europäische Zentrum am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, hat in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vieles Alte wiederaufgebaut. Vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren aber auch Neues gewagt und das beileibe nicht nur an der Stadtperipherie. Verglichen mit anderen Gebäuden war der Anbau am Dürer-Haus dabei eher ein brutalistischer Zwerg, wenn auch einer am altstädtischen "place to be". Gänzlich unumstritten war keiner dieser Entwürfe: nicht der Erweiterungsbau am Johannes-Scharrer-Gymnasium, nicht der Wohnkomplex am nördlichen Rand des Stadtparks. Wer heute nach dem vielleicht hässlichsten Großbau Nürnbergs fragt, dürfte mit einiger Regelmäßigkeit den Begriff "Norishalle" zu hören bekommen - ein ebenso massiver wie grauer Klotz am Altstadtrand, im Jahr 1969 eingeweiht. Zu der Zeit beherbergte er die Landesgewerbeanstalt, heute sind dort die Stadtarchivare untergebracht.

Die gehen offensiv mit der Baugeschichte um, im Haus ist dieser Tage die Ausstellung "Beton. Raum. Kunst. Architektur und Skulptur in Nürnberg" zu sehen. Gezeigt werden Arbeiten von Künstlern, die sich dem Baustoff Beton verschrieben haben: Tobias Rempp, Dominik Schoell, Robert Scholz. Auch dass für manchen brutalistisches Bauen als stilbildend galt und gilt, nicht wenige freilich von "Betonklotz" oder gar "Schandfleck" sprechen, verschweigt Stadtarchivleiter Arnold Otto nicht. Überhaupt drängten sich beim Begriff "Brutalismus" Assoziationen von Gewalt auf, zumal diese gar nicht abwegig sind, kann doch im Lateinischen "brutus" nicht nur mit "wuchtig" und "schwer", sondern auch mit "schwerfällig, plump, stumpfsinnig" und übrigens auch "dumm" übersetzt werden. Andererseits, ergänzt der Galerist Markus Gramer in einer Hinführung zum Thema Beton, war es kein Geringerer als Le Corbusier, der dem Brutalismus zum Durchbruch verhalf - und mit dem französischen "brut" ganz andere Assoziationen einbrachte: "Auch ein Glas Champagner, ein Rohdiamant, eine unverputzte Wand oder irgendetwas anderes, das noch der eventuellen Bearbeitung harrt, wird als brut bezeichnet."

Kulturbürgermeisterin Julia Lehner erinnert daran, dass bereits der Wettbewerb um die Norishalle die Gemüter erhitzte und der siegreiche Entwurf des Architekten Heinrich Graber aus Fürth "die Lager" endgültig scharf getrennt hatte: hier enthusiasmierte Befürworterinnen einer Doppelpavillonanlage und Fensterbändern, dort entschiedene Gegner dieses bis heute wohl prominentesten Nürnberger Betonbrutalismusbaus. Die einen sahen (und sehen) einen Akt roher - und unverkleideter - Gewalt an einer historischen Stadt. Die anderen ein exemplarisches Beispiel für einen symbolischen Neuanfang nach 1945. Wobei der Bauhistoriker Sebastian Gulden anmerkt, dass auch die Nazis in Nürnberg dem Beton - Baustoff nicht zuletzt der Zwanzigerjahre - nicht demonstrativ abgeschworen hatten. Diesen aber konsequent mit Kalk-, Sandstein oder Granit verkleideten, um eine Aura vermeintlicher Unvergänglichkeit zu bewahren.

In einem SZ-Gespräch über den Wiederaufbau bayerischer Städte nach 1945 hat die Denkmalwissenschaftlerin und Architekturhistorikerin Carmen Enss im vergangenen Jahr prophezeit, dass der in Großmetropolen wie London bereits grassierende Brutalismus-Hype weiter ausgreifen dürfte. Auch der Jugendstil, hat sie beobachtet, sei anfangs verteufelt worden, "nach 70 Jahren" aber kehre "sich der Geschmack um". Demzufolge dürfte das Interesse für brutalistisches Bauen den Höhepunkt noch nicht ganz erreicht haben - und ein Schicksal wie das der Auferstehungskirche im fränkischen Sailauf drohen dem Albrecht-Dürer-Anbau und der längst denkmalgeschützten Noris-Halle schon gar nicht.

Das Gotteshaus - schroff, aus Sichtbeton, ein klassisch brutalistischer Bau von Emil Mai, einem Schüler von Sep Ruf - war im Jahr 2009 kurzerhand abgerissen worden. Wie bei vielen solcher Bauten wäre auch in Sailauf nach ungefähr 40 Jahren eine Generalsanierung notwendig gewesen (der Norishalle war bereits 1997 die "Gefahr abbröckelnder Betonteile" attestiert worden). Eine Sanierung aber wollte man im Vorspessart offenbar nicht. Erst neuerdings setzt sich auch dort mehr und mehr die Ansicht durch, dass nur dieser Abriss brutal war. Nicht etwa der Bau.

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