Süddeutsche Zeitung

Geschichtskrimi:Wengenmairs letzter Weg

Anthropologen, Historiker und Archäologen rekonstruieren 506 Jahre nach der Tat einen Mord, in den die Nürnberger Stadtspitze verstrickt war. Die Geschichte eines Cold-cold-cold-Cases.

Von Olaf Przybilla

Was genau der renommierte Gerichtsschreiber Johann Wengenmair im Franziskanerkloster in Annaberg vorhatte, wird man kaum noch eruieren können. Angeblich pflegte er gute Kontakte zu einer Führungsfigur des Klosters, vielleicht wollte er aber auch nur zur Frühandacht. Unstrittig dagegen ist, dass Wengenmair dort nie angekommen ist. Zwei Männer lauerten ihm auf, und nach allem, was heute bekannt ist, brachten sie den dreifachen Familienvater auf heimtückische Weise vorsätzlich um. Vor vier Jahren wurde sein Skelett bei archäologischen Grabungsarbeiten gefunden. Alles weist darauf hin, dass mit roher Gewalt auf seinen Schädel eingewirkt wurde, so dass Wengenmair noch am Tatort seinen schweren Verletzungen erlegen ist.

Wann sich das zugetragen haben soll? Das wiederum lässt sich exakt datieren: am frühen Morgen des 2. Juni 1514. Auch darüber, wer den Juristen ums Leben gebracht hat, gibt's kaum Zweifel. Als Täter konnten bald zwei Männer festgenommen werden. Sie haben die Tat weithin eingeräumt, gaben aber zu Protokoll, lediglich einen Auftrag ausgeführt zu haben. Mord also, einer aber mit Hintermännern, gegen die - wäre dieser Fall nicht aus dem Jahr 1514, sondern 2014 - die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Anstiftung zum Mord ermitteln würde. Keine Petitesse: "Mordauftraggeber werden wie Mörder bestraft", sagt die Nürnberger Oberstaatsanwältin Antje Gabriels-Gorsolke.

Wer die Hintermänner waren, darüber konnte man lange nur spekulieren - ein ungelöstes Kapitalverbrechen also, sozusagen ein Cold-cold-cold-Case. Nach dem Fund der Überreste von Wengenmair im Jahr 2016 freilich gibt es nun eine ebenso heiße wie brisante Spur. Sie führt nach Nürnberg und dort in die allerhöchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise.

Antonia Landois, Abteilungsleiterin im Stadtarchiv Nürnberg, hat die neuen Ermittlungen von Anfang an beobachtet. Wobei man betonen muss, dass diese Ermittlungen von Archäologen, Historikern und Anthropologen geleitet werden, nicht von Staatsanwälten. Mord verjährt zwar nicht, klar. Nach hundert Jahren aber werden Ermittlungsdaten aus der EDV der Anklagebehörden gelöscht, der moderne Rechtsstaat sieht Sippenhaft nicht vor. Gibt es einen Kriminalfall aus der Nachkriegsgeschichte, der von der Brisanz her mit dem Fall Wengenmair vergleichbar wäre? Landois fällt da nur der Fall Barschel ein. Aber auch der hatte wohl kaum das kriminalistische Potenzial der Causa Wengenmair.

Der Aufwand, den Forscher mehrerer Disziplinen für die Fallaufklärung betreiben, ist dann auch enorm. Paläomechaniker recherchieren zum Tatwerkzeug, einer visualisierten Tathergangsanalyse zufolge muss sich der Mord in etwa so zugetragen haben: Die Auftragstäter dürften Wengenmair über einen längeren Zeitraum observiert, ihm morgens gezielt aufgelauert und ihm von vorne einen Schlag ins Gesicht versetzt haben, so dass der Jurist einen Zahn verlor und in die Knie ging. Der entscheidende Schlag mit einer Axt auf dessen Kopf erfolgte von der Seite, er dürfte bereits todesursächlich gewesen sein.

Der Ermittlungsdruck war 1514 enorm: Ein Mord an einem auswärtigen Juristen ohne erkennbares Motiv auf offener Straße in einem der vorzüglichsten Orte des sächsischen Herzogs, in Annaberg, der aufstrebenden Stadt des Silbererzes - da waren Ermittlungsbehörden im ausgehenden Mittelalter ebenso alarmiert wie sie es heute wären. Der eine Täter, ein gewisser Wilbold Tiermann, wurde noch am selben Tag gefasst und unter Folter verhört. Er gab an, ein Mittelsmann aus Nürnberg habe den Mord beauftragt. Es fiel bereits ein Name, der an Brisanz kaum zu überbieten war. Der zweite Täter namens Hensel Unger war zunächst noch flüchtig, konnte aber schon fünf Wochen später im 80 Kilometer entfernten Pirna aufgegriffen werden. Ihr Geständnis brachte den beiden nichts. Acht Wochen nach der Tat wurden sie hingerichtet. Tod durch Rädern.

Silvio Bock ist der Archäologe, der auf das Skelett Wengenmairs gestoßen ist. Zusammen mit der Historikerin Ivonne Burghardt hat er über Jahre an dem Fall gearbeitet, nun haben die beiden in den "Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg" einen fast detektivischen Zwischenbericht vorgelegt, eine bahnbrechende Arbeit. Der zufolge war wohl nicht nur ein Sprössling der Familie Tucher am Auftragsmord beteiligt, was allein schon spektakulär genug wäre: Immerhin zählten die Tuchers zu den Magnaten des Mittelalters, heute wäre das etwa die Liga der Schaefflers, Mohns, Albrechts. Nur hatten die Tuchers, im Gegensatz zu heutigen Wirtschaftslenkern, als führende Ratsmitglieder in Nürnberg auch exekutive Macht in einer äußerst exklusiven Körperschaft inne. Über dem Rat der freien Reichsstadt Nürnberg stand nur noch der Kaiser.

Damit nicht genug. Die beiden Forscher haben eine Fülle von Indizien zusammengetragen und ihre Conclusio hält Antonia Landois vom Nürnberger Stadtarchiv für "sehr stichhaltig" - was wohl als untrügliches Zeichen für die Seriosität der Arbeit gelten darf. Immerhin halten es Bock und Burghardt für wahrscheinlich, dass es der gesamte Rat der Stadt war, der hinter dem Annaberger Auftragsmord steckt. Anders gesagt: die (historische) Stadt Nürnberg - der (heutige) Arbeitgeber von Landois.

Wengenmair wurde im Grab Nummer 20 der Franziskanerkirche gefunden, in "außergewöhnlicher Körperhaltung" wie Archäologe Bock schildert: beide Arme überm Körper verschränkt, die Beine überkreuzt. Schon dieser höfische Gestus galt als klarer Hinweis, dass das Skelett nicht von irgendjemandem stammt. Tatsächlich war Wengenmair als Faktotum für höchste Nürnberger Kreise tätig, er genoss tiefe Einblicke, womöglich zu tiefe, in sämtliche Stadtgeschäfte.

Warum er aus einer der führenden Reichsstädte in den sächsischen Erz-Emporkömmling Annaberg übersiedelte, ist nicht bekannt. Quellenmäßig belegt aber ist, dass der gedungene Auftragsmörder Tiermann in seiner peinlichen Vernehmung einen entscheidenden Hinweis gab, wer ihn - klandestin natürlich, über einen Mittelsmann - zum Mord angestiftet haben soll. Es war Andreas Tucher, der im feinen Stadtstaat namens Nürnberg fast alle wichtigen öffentlichen Ämter durchlaufen hat. Ein Mann aus dem innersten Zirkel der Macht.

Wengenmair war in Nürnberg der Dokumentenfälschung bezichtigt worden, was peinlich ist für eine Art Topjuristen. Aber, erörtert die Historikerin Burghardt, wohl kaum "hinreichenden Anlass" bot für einen politischen Mord über Landesgrenzen hinweg, einen klassischen Landfriedensbruch also. Da hätte es ein Antrag auf Amtshilfe beim Herzog von Sachsen auch getan. Das späte Mittelalter mag noch gefoltert haben und gerädert, Auftragsmord als Mittel politischen Handelns gehörte dagegen nicht zum gängigen Instrumentarium.

Tucher stand als direkter Dienstherr im engsten Kontakt mit dem hochdotierten Wengenmair, als dieser in Verdacht geriet, falsche Quittungen ausgestellt zu haben. Dass Tucher heute mindestens wegen Mitwisserschaft eines Tötungsdeliktes belangt würde, darf als wahrscheinlich gelten. Als alleiniger Auftraggeber eines Mordes aber? Wohl kaum. Wengenmair dürfte da vielmehr sein vielfach belegtes Engverhältnis zu Anton Tetzel zum Verhängnis geworden sein. Der hatte eine rasante Karriere an Nürnbergs Stadtspitze hingelegt, als er 1514 verhaftet wurde. Der Vorwurf: Verrat. Tetzel soll seine Stellung genutzt haben, um hinter dem Rücken der Stadt mit der markgräflichen Konkurrenz Geschäfte zu machen. Zur Hand dürfte ihm dabei ein Jurist gegangen sein: Wengenmair, der Advokat in allen Gassen Nürnbergs.

Tetzel wurde weggesperrt, soziale Kontakte waren ihm untersagt, der gefürchtete Mann von der Stadtspitze hatte wohl zu viel Herrschaftswissen. In ihrem primär für die Wissenschaftswelt bestimmten Artikel konstatieren Bock und Burghardt nun im behutsamen Jargon der Historikerbranche, es müsse aber schon "vorsichtig gefragt werden, ob es nicht auch notwendig gewesen war, Wengenmair zum Schweigen zu bringen". Als historisches Ermittlungsergebnis ist das deutlich genug.

Der Herzog von Sachsen war übrigens außer sich über die Tat. Ein Auftragsmord auf seinem Terrain und auch noch eine politische Intrige als Motiv? Er sann auf Satisfaktion. Nur dürfte ihm klar gewesen sein, dass die hohen Herren aus dem höchst einflussreichen Stadtstaat ganz sicher nicht so vom Kaiser zur Rechenschaft gezogen würden, wie es einem Auftragsmord juristisch angemessen gewesen wäre. Also wurde in Hinterzimmern zäh verhandelt. Nach vier Jahren gab's ein Ergebnis, vermittelt durch höchste Kreise. Nürnberg durfte weiter behaupten, nichts mit der leidigen Causa Wengenmair zu tun zu haben. Trotzdem aber - selbstredend bitte nicht als Schuldeingeständnis - "verehre" man dem Sachsen 5800 Gulden an. Einfach so, unter (nun wieder) guten Freunden.

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Quelle:
SZ vom 19.09.2020/kafe
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