Irgendwann sagt Elvira Weiß einen Satz, der nach Ikea klingt, nach diesem Werbeslogan: Wohnst du noch oder lebst du schon? Sie sagt: "Will ich nur noch für das Haus da sein oder will ich, dass die Wohnung für mich da ist?" Weiß, 61, hat diese Frage längst für sich beantwortet. Wenn alles nach Plan läuft, wird sie Ende 2021 aus ihrem großen Haus in eine kleinere Wohnung umziehen. Sie wird das nicht allein tun, sondern gemeinsam mit etwa zwei Dutzend weiteren Frauen und Männern, die im Alter etwas Neues wagen wollen: ein genossenschaftliches Wohnprojekt für die Generation Ü 50.
Elvira Weiß lebt in der Oberpfalz, in Neunburg vorm Wald. Die Stadt liegt gut 20 Kilometer entfernt von der Grenze nach Tschechien. Die Gegend ist längst nicht mehr so abgelegen wie früher, als der Eiserne Vorhang noch hing. Aber Universitäten und Großkonzerne sind immer noch weit weg. Wer Karriere machen will, entscheidet sich oft fürs Pendeln, nach Regensburg, München - oder zieht gleich dorthin. Viele junge Neunburger machen das so. Ihre Eltern bleiben allein in ihren 200-Quadratmeter-Häusern samt Garten. Sie werden älter, vielleicht schwächer, und irgendwann merken sie, dass das große Haus, das früher ein Traum war, zur Last geworden ist. So war das auch bei Elvira Weiß. Dann hörte sie von diesem Projekt: "9 Bürger".
Der Name ist ein Wortspiel. Weil 9 Bürger nach Neunburg klingt und weil es neun Bürger waren, die vor gut einem Jahr eine Genossenschaft gegründet haben. Die Idee stammt von Marianne Deml, 70. Auch sie wohnt alleine mit ihrem Mann in einem 200-Quadratmeter-Haus, auch ihre Kinder sind fortgezogen. Zwei nach München, eine Tochter lebt in Sankt Petersburg. Haus und Garten seien "eine Riesenfreude", wenn man jung sei und Kinder habe. Aber im Alter "eine Riesenaufgabe", sagt Deml. Ihr Sohn, Architekt, hat in München bereits Genossenschaftsprojekte umgesetzt, vor allem für jüngere Menschen, Singles und Familien. Die Mutter fragt sich jetzt: Kann das auch mit älteren Menschen funktionieren? In einer Kleinstadt?
"Vielleicht bin ich da ein Vorreiter", sagt Deml. Ihr Plan: Auf einer Wiese beim Neunburger Friedhof soll eine Anlage mit 19 Wohnungen entstehen. Das Grundstück hat die Stadt auf Erbpachtrecht zur Verfügung gestellt. Die kleinste Wohnung misst 40 Quadratmeter, die größte 78. Eine offene Anlage mit Innenhof und Gemeinschaftsbereichen. "Eine Alternative zwischen Eigenheim und Pflegeheim", sagt Deml, weil sich die Bewohner gegenseitig unterstützen könnten - und trotz ihres Alters im Kollektiv selbstbestimmt bleiben. Das ist jedenfalls die Idee. Als älterer Mensch im 21. Jahrhundert "muss ich umdenken", sagt Marianne Deml. Auch Elvira Weiß sagt: "So wie es früher war", dass die Großfamilie unter einem Dach lebt, dass zuerst die Alten die Jungen mit den Kindern unterstützen und später die Jungen die Alten pflegen, "so ist es nicht mehr". Zur Zielgruppe des 9-Bürger-Projekts gehören nicht nur ältere Menschen, die sich verkleinern wollen, weil ihnen das große Eigenheim zu anstrengend geworden ist.
Es gibt noch eine Gruppe, die das Projekt anspricht: Diejenigen, die im Alter aus der Groß- in die Kleinstadt zurückkehren möchten. Zum Beispiel Alois Wild, 65. Er gehörte zu denen, die als junger Mensch aus Neunburg "in den Dunstkreis München" zogen. In Weihenstephan hat er Landwirtschaft studiert, bei Siemens angefangen und in Moosburg ein Haus für sich und seine Familie gekauft. Nun ist er in Altersruhe, dazu kam "eine Trennungsgeschichte", sagt Wild. Als alleinstehender Rentner im teuren München "habe ich mir überlegt: Willst du die Hälfte von deinem Geld, das eh schon nicht mehr so reichlich da ist, nur dafür ausgeben, dass du ein Dach über dem Kopf hast?"
Auch Wild hat diese Frage für sich beantwortet. Er hat sich eine Wohnung in der 9-Bürger-Anlage reserviert, gehört inzwischen zum Vorstand der Genossenschaft. Derzeit lebt er in einer Mietwohnung in Neunburg, 50 Quadratmeter klein, "was ich mir lange nicht vorstellen konnte". Nun sagt Wild: "Das reicht mir." In der Ü-50-Wohnanlage will er ein Repair-Café einrichten. Dort könnten Bewohner für ihre Nachbarn Elektrogeräte oder Fahrräder reparieren. Und er will "irgendwas mit Filmen machen", vielleicht ein kleines Kino im Gemeinschaftsraum, "ich habe Hunderte DVDs, anspruchsvolle Filme", sagt Wild. Auch seine Bücher, "ein paar Tausend", würde er für eine Hausbibliothek stiften.
Das Prinzip des Neunburger Genossenschaftsprojekts geht so: Die Bewohner kaufen Anteile, werden dadurch Miteigentümer des Projekts und haben ein lebenslanges Wohnrecht. Eine Zweizimmerwohnung mit 58 Quadratmetern etwa kostet gefördert 43 500 Euro, frei finanziert 49 500 Euro. Dazu kommt eine monatliche Nutzungsgebühr, eine Art Miete: 435 Euro. "Im Vergleich mit den ortsüblichen Mieten ist das nicht ganz billig", sagt Wild, dafür seien aber alle Wohnungen senioren- und teils behindertengerecht, es gebe die Gemeinschaftsräume und ein Gästezimmer, das jeder nutzen kann, wenn Kinder oder Enkelkinder zu Besuch kommen.
Die Nutzungsgebühr habe den Zweck, "dass die laufenden Kosten gedeckt werden", es gehe nicht um Gewinnmaximierung, sagt Markus Sowa-Deml, der die Idee seiner Mutter als Vorsitzender der Genossenschaft unterstützt. Jeder Bewohner habe die Sicherheit, "dass die Preise langfristig stabil bleiben. Und man läuft nicht Gefahr, dass einem die Wohnung gekündigt wird", sagt Sowa-Deml. Zieht ein Bewohner wieder aus oder wechselt in ein Pflegeheim, kann er seine Genossenschaftsanteile weitervererben. Oder er kündigt seine Wohnung und lässt sich die Anteile auszahlen.
"So sicher wie Eigentum und so flexibel wie Miete", heißt es in der Werbebroschüre des Projekts. Allerdings fremdeln manche älteren Menschen mit der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens. Rund die Hälfte der Wohnungen in der Anlage sind noch zu vergeben. "Auf dem Land", sagt Alois Wild, seien viele "immer noch sehr eigentumsorientiert und tun sich schwer, ihr Eigentum loszulassen". Dabei sei "diese gemeinschaftliche Idee eigentlich auch eine Form von Eigentum", sagt Wild.
Noch liegt der Grund brach, auf dem die dreigeschossige Wohnanlage gebaut werden soll. "Die Idee der Architekten war, dass das Zusammenleben ähnlich funktioniert wie auf einem Bauernhof", sagt Markus Sowa-Deml. Direkt neben dem Grundstück ist ein Senioren- und Pflegeheim. Wer also irgendwann umfassende Betreuung braucht, könnte dorthin ziehen und bliebe in der Nähe der früheren Nachbarn. Demnächst werde es Gespräche geben zwischen den Architekten und den künftigen Bewohnern, die bei der Planung ihrer Wohnungen mitreden, sagt Sowa-Deml.
Elvira Weiß wartet schon ungeduldig auf den Tag, an dem sie einziehen kann. Sie hofft auf Nachbarn, die mit ihr gemeinsam Qigong machen oder Spaziergänge. Bis alle Wohnungen vergeben sind, sagt Alois Wild, werde es aber noch "eine gewisse Überzeugungsarbeit" brauchen.