Neues Museum in Lindenberg:Guten Hutes

Deutsches Hutmuseum Lindenberg

Einen Wirbelsturm aus Kopfbedeckungen präsentiert das Deutsche Hutmuseum in Lindenberg.

(Foto: Stefan Puchner)

Lang, lang ist's her: Im Allgäu wurden einst acht Millionen Strohhüte im Jahr gefertigt. Nun erinnert ein Museum in Lindenberg an die große Zeit von "Klein Paris".

Von Stefan Mayr, Lindenberg

In dieser Stadt trägt sogar Jesus einen Hut. Über der Kanzel der Pfarrkirche Sankt Peter und Paul steht er in golden glänzendem Gewand. Der Heiland als Sämann mit einem runden Deckel auf dem Kopf, das alleine ist schon einen Besuch wert. Doch der behütete Heiland ist nicht die einzige Besonderheit im prächtigen Gotteshaus von Lindenberg im Westallgäu: Das 11 000-Einwohner-Städtchen hat doch tatsächlich das größte Geläut im ganzen Bistum, mit den 17,9 Tonnen Gesamtgewicht kann nicht einmal der Augsburger Dom mithalten. Gekrönt wird der neobarocke Bau von zwei imposanten Türmen und einer ebenso mächtigen Kuppel. "Das ist unser Hut-Dom", sagt Günther Rädler, Hutmachermeister in Rente. "Vor hundert Jahren wollten die Lindenberger ihren Reichtum zeigen und protzen."

Der "Dom des Westallgäus", wie die Pfarrkirche auch genannt wird, ist für diese Kleinstadt definitiv überdimensioniert. Und damit ein sehr authentisches Symbol für das Selbstwertgefühl der Bauherren damals: 1910 war Lindenberg noch keine Stadt, hatte aber schon 14 Hutfabriken mit 3000 Mitarbeitern. Diese stellten pro Jahr etwa acht Millionen Strohhüte her. Das Dorf galt als Zentrum der deutschen Hutindustrie, es wurde "Klein-Paris" genannt. "Das Modediktat haben wir hier nicht geschrieben", räumt Kathrin Felle von der Lindenberger Tourist-Information ein, "aber unsere Hüte gingen in die ganze Welt." Vor allem der sogenannte "Matelot", jener flache Matrosenhut, der wegen seiner Form auch "Kreissäge" genannt wird. "Das war jahrelang der Verkaufsschlager", sagt Hutmachermeister Rädler.

Der 74-jährige Rentner trägt selbst einen Filzhut. Aus Kaninchen-Haar. Das sind die besseren und teureren im Vergleich zu den Gewirken aus Schafswolle. "Haar ist feiner, schöner und weicher als Wolle", sagt Elfriede Berger. Die 58-jährige gelernte Damenschneiderin näht seit 26 Jahren Hüte. Sie ist eine der wenigen, die der Branche bis heute treu geblieben sind. Der Meister und die Näherin sitzen im ehemaligen Kesselhaus der Hutfabrik Reich. Unter den haushohen rostfarbenen Dampfrohren des alten Ofens tauschen sie bei Cappuccino und Tee ihre Erinnerungen an jene Zeiten aus, als "Klein-Paris" noch brummte. Rädler: "Damals hatten die Lindenberger viel, viel Geld übrig."

Ende des 19. Jahrhunderts hat das ganze Westallgäu vom Hut gelebt

Das war nicht immer so: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Lindenberg noch ein bitterarmes Dorf im Nirgendwo zwischen Lindau und Isny. Um trotz des kargen Bodens ihre Familien ernähren zu können, zogen die Bauern über die Alpen, um dort mit Pferden zu handeln. Einer von ihnen musste dort - der Legende nach - wegen einer Krankheit überwintern. Dabei lernte er das Strohflechten und Hutnähen und brachte diese Kunst nach Hause. Zunächst flochten die Lindenberger für den Eigenbedarf "Schatthüte" - zum Schutz vor Sonne und Wetter. Bald darauf entstanden die ersten modischen Hüte. "Mit denen haben sich die Großkopferten vom Volk abgehoben", erzählt Elfriede Berger. Ein neuer Erwerbszweig war geboren. Und schlug voll ein. "Damals hat noch das ganze Westallgäu vom Hut gelebt", sagt sie.

Vor allem Ende des 19. Jahrhunderts. Schon um 1850 importierten die Lindenberger ihre Borten aus China. Die Produktion wurde industrialisiert, bald wurden 55 000 Hüte pro Jahr in alle Welt verschifft. Anno 1893 leistete sich Lindenberg eine elektrische Straßenbeleuchtung - angeblich noch vor München. Und die Hutindustrie wuchs weiter, Lindenberger Jahresproduktion 1913: acht Millionen Strohhüte. Dann kamen die Weltkriege. Sie wurden eher schlecht als recht überstanden. In Lindenberg mussten plötzlich Schneeschuhe und Bandagen hergestellt werden. Und die Tropenhelme für die Afrika-Truppen der deutschen Wehrmacht.

Deutsches Hutmuseum Lindenberg

Zur Ausstellung gehört eine Maschine, an der Elfriede Berger zeigt, wie aus Borten Strohhüte genäht werden.

(Foto: Stefan Puchner)

Nach dem Krieg profitierten die Hersteller zunächst vom Wirtschaftswunder. Die Fabriken meldeten Rekordumsätze. Doch dann ging es bergab. Grund war nicht etwa billige Konkurrenz aus Asien. Sondern: das Auto. "Ein Hut war beim Einsteigen einfach unpraktisch", sagt Rädler, "drum haben die Leute keinen mehr gekauft." Obwohl es vorher "noch undenkbar" gewesen sei, "ohne Kopfbedeckung vor die Tür zu gehen." Bald war es die Regel. Rädler sagt: "Da ist dann eine Firma nach der anderen kaputt gegangen." Das reiche Klein-Paris mit seinen bis zu 34 Fabriken verschwand so schnell, wie es entstanden war. Rädler erlebte diesen Absturz mit: In seinen letzten Berufsjahren stellte er keine Hüte her, sondern Körbchen für Büstenhalter. Seine Firma Mayser hat ihre Kompetenz in der Verformung von Textilien genutzt, um auf andere Produkte umzusteigen. "Das war die schönste Zeit", scherzt Rädler. Heute ist Mayser die einzige Firma, die aus der Boom-Zeit übrig geblieben ist. Sie produziert Schaumstoff-Verkleidungen für Autos oder technische Textilien oder eben BHs. Der Hut? Nur noch Nebenprodukt, obwohl vor dem Firmentor ein Denkmal an die Hutmacherei erinnert.

Elfriede Berger näht heute sieben bis 20 Hüte am Tag - im Familienbetrieb Seeberger im benachbarten Weiler. "Das können bei uns nur noch drei Frauen." Sie arbeiten an einer kleinen schwarzen Nähmaschine aus den 1920er Jahren. "Da geht nichts kaputt", sagt sie, "und andere werden nicht mehr hergestellt." Es gab Zeiten, da stand solch eine Maschine in fast jedem Lindenberger Haus. Kathrin Felle erinnert sich an Besuche bei ihrer Oma: "Immer, wenn ich als Kind in ihr Haus gekommen bin, hat es gebrummt und vibriert." Die Heimarbeit war ein wichtiger Bestandteil der Hutindustrie: Die Fabriken ließen Hausfrauen für sich arbeiten, die sich abends oder nachts an ihre Nähmaschinen setzten. "Früher hatte jede Lindenberger Familie mindestens einen Huterer", erzählt Günther Rädler. Lang, lang ist's her.

Und die Erinnerung verblasste zusehends. In den letzten Jahren feierte die Stadt einmal im Jahr den "Huttag" mit Markt und kürte die Deutsche Hutkönigin. Das war's. Die Ruinen der geschlossenen Hutfabriken verfielen zu Schandflecken. Aber jetzt, pünktlich zum 100. Jubiläum der Stadterhebung, feiern der Matelot und seine Artgenossen ihr Comeback: Am Samstag eröffnet das neue Deutsche Hutmuseum im alten Fabrikhaus der Firma Reich. Das vierstöckige markante Baudenkmal wurde mitsamt Schornstein für zehn Millionen Euro saniert und zur "Kulturfabrik" mit Museum ausgebaut.

Deutsches Hutmuseum Lindenberg

In der Pfarrkirche der Stadt ist sogar Jesus gut behütet.

(Foto: Stefan Puchner)

Ein Besuch der 1000 Quadratmeter großen Ausstellung kann jedem Allgäu-Urlauber nur empfohlen werden. Alte und neuere Maschinen zeigen die Herstellung vom Strohhalm bis zum Matelot - oder von der Wolle bis zur Filzkappe. Auch die verschiedenen Funktionen von Kopfbedeckungen werden erklärt - vom Mittel zum Zweck (bei den chinesischen Reisbauern) über das Statussymbol (Zylinder oder Kapitänsmütze) bis zum Mode-Accessoire (die Glocke). Das berühmteste Exponat ist das Käppchen von Papst Benedikt XVI. - schneeweiß mit feinem Schweißrand. Im Treppenhaus stehen alle möglichen Redewendungen, in denen ein Hut vorkommt: Da platzt mir doch die Hutschnur, so klein mit Hut, Hut ab. "Auf den Köpfen ist der Hut heute nicht mehr präsent", sagt Rädler, "aber in den Köpfen schon noch."

Das Denken der Lindenberger scheint sich dagegen verändert zu haben. Konnte es damals beim Kirchenbau gar nicht riesig genug sein, versuchten sie nun, das Museum zu verhindern. Sie fürchteten, die Stadt könnte sich übernehmen. Beim Bürgerentscheid waren die Zweifler sogar in der Mehrheit. Aber sie scheiterten an der geringen Beteiligung. So kam es, dass Lindenberg jetzt zwei üppige Attraktionen hat. Museumsleiterin Angelika Schreiber hofft auf 30 000 Besucher pro Jahr.

Das Eröffnungs-Band wird Hutkönigin Norina Mitter zerschneiden. Dabei wird sie einen Hut tragen, der extra im Atelier der Firma Mayser kreiert wurde. Klein-Paris ist wieder erwacht.

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