Prozess möglich:Ermittlungen gegen ehemaligen KZ-Aufseher

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Der Fall erinnert stark an den Demjanjuk-Prozess: Erstmals seit fast 40 Jahren könnte ein Mitglied der Lagermannschaft von Auschwitz-Birkenau vor Gericht kommen. Der 87-Jährige wird beschuldigt, an der Ermordung Hunderttausender Menschen beteiligt gewesen zu sein.

Wolfgang Wittl

Die bayerische Justiz steht möglicherweise vor einem weiteren spektakulären Kriegsverbrecherprozess gegen einen Wachmann aus dem Zweiten Weltkrieg. Fast 70 Jahre nach Kriegsende und 15 Monate nach dem Urteil gegen John Demjanjuk, der im Konzentrationslager Sobibor am Mord von mehr als 28.000 Juden mitgeholfen haben soll, muss sich die Staatsanwaltschaft Weiden mit einem ähnlichen Fall befassen.

Ein Foto des Haupttores zum Konzentrationslager Auschwitz aus dem Jahr 1955. (Foto: dapd)

Ein heute 87-jähriger Mann wird beschuldigt, im KZ Auschwitz-Birkenau an der Ermordung Hunderttausender Menschen beteiligt gewesen zu sein. Dies geht aus einem Vorermittlungsverfahren hervor, das am Montag bei der Staatsanwaltschaft Weiden eingegangen ist. Verfasser ist die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.

Die Behörde mit Sitz in Ludwigsburg wirft dem Beschuldigten "einen wesentlichen Tatbeitrag" an der Tötung wehrloser KZ-Inhaftierter vor. Der Mann sei 1942 der Waffen-SS beigetreten und zum Wachmann ausgebildet worden. Nach seiner Versetzung nach Auschwitz soll er von April 1944 an im Vernichtungslager Birkenau gearbeitet haben.

Alleine während der sogenannten Ungarn-Aktion zwischen Mai und Juli 1944 seien dort 137 Züge mit mehr als 433.000 deportierten Menschen - vor allem Juden - eingetroffen, "von denen mindestens 344.000 unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern von Birkenau grausam getötet wurden", wie es in dem Bericht heißt. Und weiter: "Durch seine Tätigkeit beim Absperren der Rampe und beim Wachdienst" habe der Mann "die Vernichtung der Deportierten im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen gefördert und damit einen kausalen Beitrag zu den als Mord zu qualifizierenden Tötungsverbrechen geleistet."

Ähnlichkeiten zum Fall Demjanjuk

Für Kurt Schrimm, den Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, ist der Fall ebenso bedeutsam wie der Demjanjuk-Prozess - nicht nur wegen der außergewöhnlich hohen Zahl an Todesopfern. Es wäre seit fast 40 Jahren die erste Gerichtsverhandlung gegen ein ehemaliges Mitglied der Lagermannschaft aus dem KZ Auschwitz-Birkenau, dem größten Massenvernichtungslager unter dem nationalsozialistischen Regime.

Nach Angaben von Historikern wurden dort bis zu eineinhalb Millionen Menschen ermordet. Zu hinterfragen wäre auch die kriminelle Energie des Mannes: Im Gegensatz zu John Demjanjuk, bei dem es sich um einen sogenannten "fremdvölkischen Hilfswilligen" handelte, meldete er sich freiwillig zur Waffen-SS.

Der gebürtige Ukrainer Demjanjuk war im Mai 2011 vor dem Münchner Landgericht zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum mehrfachen Mord im NS-Vernichtungslager Sobibor verurteilt worden. Da Staatsanwalt und Verteidigung Berufung einlegten, wurde das Urteil allerdings nie rechtskräftig. Im März dieses Jahres starb Demjanjuk, 91, eines natürlichen Todes.

Jeder Wachmann war Teil der Mordmaschinerie

Der Spruch der Schwurgerichtskammer gilt bis heute als wegweisend, da erstmals in Deutschland ein Ausländer für seine im Ausland begangenen Kriegsverbrechen verurteilt wurde - ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen worden wären. Die Richter hielten es für erwiesen, dass jeder SS-Mann und jeder Wachmann als "Teil der Mordmaschinerie" am Massenmord beteiligt gewesen sei. Dieselbe Argumentation könnte nun auch bei dem 87-Jährigen angeführt werden, der nach Angaben der Ermittler unter fremder Staatsbürgerschaft im Ausland lebt.

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen war auf den Beschuldigten offenbar bereits im Zuge des Demjanjuk-Prozesses aufmerksam geworden. Ein Name, den Kurt Schrimm damals nannte und auf den die Beschreibung des Beschuldigten zutrifft, ist der von Johann B. - ein gebürtiger Slowake, der 1952 in die USA auswanderte, die US-Staatsbürgerschaft seiner Mutter annahm und heute in Philadelphia lebt.

Gegenüber US-Behörden hatte B. vor Jahren zwar zugegeben, dass er im KZ Buchenwald und Auschwitz-Birkenau stationiert gewesen sei. Von den Vorgängen in den Vernichtungslagern habe er jedoch nichts gewusst. Sein Anwalt sagte der Zeitschrift The Inquirer, B. sei als 17-Jähriger gegen seinen Willen zwangsverpflichtet worden. Dem widersprach Eli M. Rosenbaum, Director of the Criminal Division's Office of Special Investigations: B. sei sehr wohl Teil des Nazi-Apparates zur Massenvernichtung gewesen.

Dies zu prüfen, wird voraussichtlich Aufgabe der bayerischen Justiz sein. Der politische Rückhalt ist in Zeiten zunehmender rechtsextremistischer Tendenzen offenbar vorhanden. "Es ist von zentraler Bedeutung, dass nationalsozialistisches Unrecht und individuelle Schuld nachdrücklich aufgeklärt und die Täter einer schuldangemessenen Strafe zugeführt werden", erklärte Justizministerin Beate Merk am Montag. Dies sei schließlich auch im Fall Demjanjuk geschehen.

Die Staatsanwaltschaft Weiden muss nun ermitteln, ob sie Anklage erheben und ein Auslieferungsverfahren beantragen will. Nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer könne es jedoch ein paar Wochen dauern, bis feststeht, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt zuständig ist. Sie muss klären, ob der Beschuldigte vor seiner Auswanderung tatsächlich im Raum Weiden gewohnt hat.

© SZ vom 21.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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