Süddeutsche Zeitung

Neue Platten aus Bayern:Tanzen, wenn die Welt stillsteht

Lesezeit: 11 min

Bayerische Rockbands, Indie-Künstler und Jazz-Musiker aus Bayern haben trotz 2020 Alben veröffentlicht. Die klingen mal fröhlich, mal traurig und spiegeln eine Gesellschaft im Ausnahmezustand

Von Michael Zirnstein, Oliver Hochkeppel, Jürgen Moises, Dirk Wagner und Christian Jooß-Bernau

Ohnmacht eines Cowboys: Das neue Album von Phonoboy

Wenn der Opener "It's 2020" des Phonoboy-Albums "Love and let die" (Records/Edel) eine innere Leere mit der Leere der Straßen beschreibt, scheinen die Stadtbilder des ersten Lockdowns im Corona-Jahr mit ihren verwaisten Clubs, Restaurants und Plätzen die Inspiration gewesen zu sein. Dazu passt dann auch jener Gedanke über die verpassten Chancen. Alle reden davon, dass es Zeit für eine Veränderung sei, aber alle gehen den selben Weg weiter, heißt es im Text. Tatsächlich gab es ja zu Beginn der Pandemie ein Innehalten der Gesellschaft, die ihre Werte zu prüfen schien. Für einen Augenblick schien man sich auch darauf zu einigen, wie viel wichtiger zum Beispiel ein Gesundheitssystem sei, das sich am Wohlbefinden der Menschen orientiert, und nicht an seiner marktwirtschaftlichen Effizienz. Dass die Situation der Krankenpfleger seit dem kaum gebessert wurde, zeigt indes, dass man den ursprünglichen Weg wider besseren Wissens trotzdem weitergehen wird, so wie man auch andere Chancen zur gesellschaftlichen Veränderung nach solcher Zäsur ungenutzt lässt.

Doch die innere Leere des Sängers, die die Leere der Straßen zu Beginn der Pandemie zu spiegeln scheint, ist zugleich auch jene eigene Ohnmacht nach dem Bruch einer Beziehung. Sie ist dieses tiefe ungreifbare Gefühl des Verlassenseins, dem der Münchner Musiker und Telstar-Studiobetreiber Christian Höck im Verlauf seines ersten Phonoboy-Albums seit sieben Jahren auch in anderen Lebenslagen nachspürt. Wenn er zum Beispiel in "Mother" um seine verstorbene Mutter trauert, oder wenn er in "Father" im Gedanken an seinen Vater das eigene Altern diskutiert. Stets schwingt in den Songs also die Vergänglichkeit mit. Zugleich aber scheint die Musik solcher Vergänglichkeit entgegenzuwirken, wenn sie mit der Fachkompetenz des Musikfans Phonoboy auch dessen musikalische Vorbilder raffiniert im Klangteppich einwebt. Denn wer sich nach einem 1969er-Plattenspieler benennt, hat auch eine Vorliebe für all die Schallplatten, die auf jenen Phonoboy der Firma Grundig möglicherweise einmal gespielt wurden.

Entsprechend schauen im Klangbild des Klangtüftlers auch musikalische Vorbilder wie John Lennon oder Tom Petty vorbei. Dann wieder übernimmt der Sänger und Multi-Instrumentalist einen Titel der Pop-Künstlerin Laurie Anderson: "You're the guy I want to share my money with". Nur dass Phonoboy, der alte French Cowboy, sein Geld nicht mit einem Typen teilt mag, sondern mit einem Mädchen: "You're the girl I want to share my money with".

Mit so einem Heiratsantrag schließt "Love and let die" nach all dem Verlassensein also wieder recht versöhnlich mit der Liebe, die sich ähnlich wie die Musik gegen all die hier verhandelte Vergänglichkeit zu behaupten weiß. Und sei es nur, um weitere Songs über das Verlassenwerden vorzubereiten. Wenn diese dann ebenso ergreifend schön gelingen wie auf diesem einzig vom Schlagzeuger Marc Boysen begleitetem Solo-Werk des Phonoboy alias Christian Höck, dann schafft auch solch Vergänglichkeit bleibende Werte. Ob diese nächstes Jahr auch konzertant erlebt werden können, hängt nicht nur von der Pandemie ab. Es setzt nämlich auch eine Band voraus, oder eine Band-ähnliche Technik, mit der Höck sein Solowerk dann auch auf der Bühne beleben könnte.

Konstantin Weckers Wiener Lieder und Gedichte

In erster Instanz ist der "Liedermacher", der sich nie dem Pathos verweigernde Sänger und der erstklassige Pianist und Musiker Konstantin Wecker, dann doch ein Poet. Das Wort kommt bei ihm stets zuerst, und alle seine Songs sind letzten Endes "vertonte Gedichte", wie er selbst erklärt. Nicht alle haben es zum Lied gebracht, und so ist schon vor fünf Jahren bei DTV der sein bald 60-jähriges Schreiben erfassende Lyrikband "Jeder Augenblick ist ewig" erschienen, mit viel Unveröffentlichtem.

Daraus ging im September ein Abend im Wiener Theater im Park hervor, den Wecker nun auf dem eigenen Label als Doppel-CD dokumentiert und herausgebracht hat. Die Burg-Schauspielerin und Eysoldt-Ring-Trägerin Dörte Lyssewski (auch die Synchron-Stimme von Cate Blanchett und anderen) und ihr Theater-an-der-Josefsstadt-Kollege Michael Dangl (bei uns durch viele Gärtnerplatztheater-Inszenierungen bekannt) haben sich daraus das ihnen Genehmste selbst ausgesucht und tragen es eindringlich vor, eingebettet in Weckers Einführungen, Lebensbeichte und Lieder aus dem aktuellen Programm. Ein starkes Stück, nicht zuletzt, weil Wecker so selbstkritisch ist, zu sagen: "Meine Texte waren immer klüger als ich."

Poesie-Pop der "Banda Internationale & Bernadette la Hengst"

Der Heimat beraubt, fremd im neuen Land - und am Ende scheitert die Integration. Gut, verglichen mit Flüchtlingen heute, war Bertolt Brecht, den ein Schiff 1941 sicher nach Amerika brachte, in komfortabler Position, aber sein Blick auf Emigration, Bürokratie und menschliche Kälte wirkt auch heute erstaunlich scharf. Die Dresdner Banda Internationale, die seit Jahren einen schützenden Klangwall gegen Rassismus baut, und Bernadette La Hengst, die ihren Beruf als Popsängerin als gesellschaftlichen Auftrag versteht, haben sich für dieses Programm im Rahmen des Augsburger Brecht-Festivals zusammengeschlossen, um den Dichter in Kombination mit eigenen Songs ins Heute zu holen. Eine ideale Besetzung: Bernadette macht Brechts Worte zum Gefäß für ihre Mission, und die Banda zeigt mit Wumms und Präzision ihre Kraft. Wenn E-Gitarre und Oud sich umarmen, ist das mehr als kultureller Crossover, es ist die Utopie dieser Aufnahme. Die ist greifbarer, als man denkt. Man stelle sich eine Welt vor, in der nicht mehr der Pass entscheidet, ob das Leben eines Menschen ins Glück oder ins Unglück führt. Noch ist es so, dass er anerkannt wird, "wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird". Dies zu ändern ist Aufgabe von uns allen, finden Banda, Bernadette und Brecht.

Die Szene strotzt dem Virus: Der Sampler " Freezing in Giesing"

Weil Konzerte heuer wegen Corona nicht in den dafür vorgesehenen Sälen stattfinden durften, wichen Veranstalter auf alternative Spielorte unter freiem Himmel aus. Zugleich formulierten sie damit eine der wichtigsten Fragen des urbanen Zusammenlebens: Wem gehört der öffentliche Raum? Etwa jene jahrelang als Parkplatz verschwendete Freifläche in Giesing, die nunmehr mit eigener Imkerei und Kleingärten unter dem Namen Grünspitz als Bürgerbegegnungsstätte ausprobiert wird.

Musiker, die diesen Ort auch als Kulturstätte des Münchner Undergrounds entdeckt haben, sind als Zeugnis jener Nutzung des öffentlichen Raums auf der Kompilation "Freezing In Giesing" vereint. Szenestars wie Inga, Keglmaier oder Philip Bradatsch sind darauf mit bislang unveröffentlichten Songs vertreten. So besingt zum Beispiel das Suzie Trio geprägt vom ersten Corona-Lockdown "1000 Rollen Klopapier", derweil G. Rag/Zelig Implosion/Deluxxe ganz im Sinne des sich ständig ändernden Maßnahmenkatalogs fragen: "Wer darf was?" Erhältlich ist die CD im nun harten Lockdown in den Online-Shops der mitwirkenden Labels Trikont und Echokammer.

Der Schmäh von gestern: Das Band-Debüt von Raphael Huber

Der Saxofonist und Flötist Raphael Huber ist fest in der Münchner Jazz-Szene verankert. Seit 2014 studierte er hier am Jazz-Institut der Musikhochschule, er ist Mitglied der Jazzrausch Bigband und unterrichtet an einer Musikschule in Olching. Hier hat er jetzt auch seine erste eigene Band Grapha zusammengestellt, ein Oktett mit vielen local heroes wie Maximilian Hirning oder Vincent Eberle. Und doch vermeint man, auf deren Debütalbum "Bös'lecker" Hubers Herkunft heraushören zu können, seine Tiroler Heimat nämlich.

Denn die schon im Albumtitel wie auch bei manchem Songtitel ("Bottle Wein Allein") aufblitzende Lust am typisch österreichischen Schmäh durchzieht das gesamte Album. Angefangen beim heiteren, wie aus den Dreißigerjahren kommenden Swing-Arrangement des Openers "Chaddar Orange Roof", über das verzinkt hardboppige "Watsoning", das pathetische eingerahmte, dazwischen wirbelwild wie von der Jazzrausch Bigband einheizende "Amal" bis zum explizit folkloristisch-humoristischen "Johnny The Game" oder der frech parodierten Schlager-Miniatur von Heintjes "Mama". Lustig, abwechslungsreich und virtuos - diese Mischung zündet, gerade jetzt.

Hörspiel mit Herdenimmunität: das Kollektiv "Alligator Gozaimasu"

Komponisten und Musiker als geniale Einzelkünstler zu feiern, davon kommt die Klassik irgendwie nicht los. Auch im Pop und Jazz gibt es den Star-Rummel. Aber es gibt auch die Band als Kollektiv und die genauso im Punk wie im Freejazz verbreitete Auffassung, die Musik als gemeinsame Leistung zu sehen. Von diesem Kollektivgeist sind auch Alligator Gozaimasu beseelt. Ein 2014 um die Münchner Mode- und Performance-Künstlerin Stephanie Müller entstandenes, offenes Netzwerk aus internationalen Musikern und Klang-Artisten von Gambia bis Istanbul.

Dieser bunt schillernden Truppe kam im ersten Corona-Lockdown die Idee, Monat für Monat unter dem Titel "Solange bunte Balken durchlaufen" via Internet ein neues Album zu produzieren und zu veröffentlichen. Seit 27. November gibt es die fünfte "Episode" mit zwölf Stücken, die sich zwischen Experimental-Pop, Hörspiel und Klangkunst bewegen. Handgemachte Percussion-, Gitarren-, Zither-, Piano- oder Flötenklänge treffen auf Elektronik, Samples und menschliche Stimmen. Daraus entsteht ein bunter, vielstimmiger und zuweilen auch herausfordernder Klangkosmos, in dessen Verästelungen man sich gerne verliert.

Eine eigenwillige "Winterreise" mit "Siegmeth / Wolf / Hunstein"

Zu den überzeugendsten unter den inzwischen zahlreichen Klassik und Jazz verbindenden Projekten gehört das Duo des Saxofonisten Hugo Siegmeth und des Lautenisten Axel Wolf. Für ihren jüngsten Streich holten sie Schauspieler Stefan Hunstein als Sprecher mit an Bord, für ein kühnes Unterfangen: ihre eigenwillige Version von Franz Schuberts "Winterreise". Von diesen Liedzyklus, Höhepunkt der Gattung Kunstlied schlechthin, gibt es bereits zahllose Interpretationen, in Originalbesetzung Klavier und Gesang wie in allen denkbaren Variationen von Gitarre, Streichquartett bis Orchester. Aber so etwas hat man dann doch noch nicht gehört.

Wolfs Lauten (darunter die mächtige, seltene und tieftönende Theorbe) verleihen Schuberts Kompositionen eine neue Rhythmik und mitunter barocken Glanz, Siegmeths Saxofone übernehmen meist den Gesangspart und überführen ihn oft Jazz-nah für den und aus dem Moment heraus in eine moderne Klangwelt. Hunsteins Rezitative schließlich verwandeln die Winterreise in ein langes Gedicht, wodurch die erschütternde Reise des Wanderers ins Ich und zur menschlichen Existenz noch klarer wird. Wie gut passt das gerade zu dieser besondere Weihnachtszeit!

Weltbürger und Wahl-Weilheimer: das Jazz-Album "Stream"

Schaut man in die Besetzungslisten der wichtigsten Alben der modernen Jazzgeschichte von Wes Montgomery über Jimmy Smith, Stan Getz oder Herbie Hancock bis zu Miles Davis, dann findet man verblüffend oft den Namen Billy Hart als Schlagzeuger. Von seinen Lebensmittelpunkten New York und Kopenhagen aus war er an mehr als 800 Einspielungen beteiligt. Der famose, in Hamburg und New York lebende Schweizer Posaunist Christophe Schweizer hat jetzt für das Münchner Label Enja ein paar deutsche Kollegen zusammengetrommelt, die Hart so verehren wie er selbst, um mit dem Meister seinen 80. Geburtstag zu feiern.

Bei "Stream", wie das Ergebnis heißt, hätte außer Schweizer, Pablo Held am Klavier und Joris Teepe am Bass auch der Saxofonist Johannes Enders dabei sein sollen, der mit Hart seit Jahren spielt und ihn quasi als Mitglied der "Weilheimer Schule" rund um ihn und die Acher-Brüder adoptiert hat. Wegen einer Erkrankung musste ihn aber der Saxofon-Kollege Sebastian Gille hier vertreten. Davon unberührt beweist Hart indes bei den seine Traditionslinie aufnehmenden Modern-Jazz-Kompositionen seiner Verehrer samt finalem Standard ("Body and Soul") einmal mehr, wie energisch und variabel er eine Band vorantreiben und in neue Richtungen lenken kann.

Gemeinsam weint sich's schön: die "Sad-Soul"-Sammlung bei Trikont

Gefühle wie Wut oder Trauer musikalisch auszudrücken, mag etwas sehr Persönliches sein. Gleichzeitig trägt man diese damit in die Welt hinaus. Und auch wenn man selbst nicht die Erlösung findet, kann der geteilte Schmerz vielleicht Trost für andere sein, die Ähnliches empfinden. Wenn man das auf die vom Münchner DJ und Journalisten Jonathan Fischer bereits 1998 auf CD zusammengestellte und nun beim Giesinger Label Trikont auf Vinyl wiederveröffentlichte Compilation "Down & Out. The Sad Soul Of The Black South" überträgt, heißt das nicht, dass Southern Soul so etwas wie ein musikalischer Blitzableiter ist.

Aber wenn George Perkins in "Crying In The Streets" den Tod von schwarzen Brüdern in Vietnam oder auf der Straße besingt, oder wenn Ella Washington in "Sit Down And Cry" eine enttäuschte Liebe, dann ist das durchaus eine öffentliche, kollektive Form der Trauer. Und es dürfte auch der Grund sein, warum diese Lieder im tiefen Süden Amerikas zu Standards wurden. Genau diese sinnstiftende Funktion des Soul steht hier auch im Zentrum. Darüber hinaus macht die Entdeckung hier kaum bekannter oder vergessener Soulstimmen großen Spaß.

Kleiner Luxus: das neue Album des kurioen "Kammerer Orköster"

Der Burghauser Trompeter Richard Köster ist wohl der erfolgreichste einheimische Jazzer, der aus den Workshops des "Jazzwoche"-Gründers Joe Viera hervorgegangen ist. Und bislang der einzige Lokalmatador, der dort den renommierten Europäischen Nachwuchs-Jazzpreis gewann. Das gelang ihm 2016 mit dem Kam merer Orköster, dem zusammen mit dem Schlagzeuger Jakob Kammerer gegründeten, mit vier Bläsern plus kleiner Rhythmusgruppe ungewöhnlich besetzten Sextett eines Freundeskreises, der sich beim Studium in Wien gefunden hatte. Lauter Hochbegabte wie Köster, Kammerer oder die Bassistin Beate Wiesinger, die inzwischen in Österreich ein Szene-Star ist.

Köster hielt den Kontakt, obwohl er im selben Jahr zum Masterstudium nach Oslo ging und seitdem dort lebt. So ist nach dem hochgelobten Debüt "Senf" 2017 nun beim Tiroler Label Marmota das zweite Album "Der kleine Luxus" erschienen. Wieder ausschließlich mit Stücken der beiden Bandleader, wieder wunderbar verspielt, funky und bunt. Wieder voller Humor wie an der "Ode an den Husten" oder im Titelstück, mal vom klassisch Getragenen zum flott Swingenden kommend ("Labsi' Wedding"), immer mit herausragend notierten Bläsersätzen.

Voodoo am Rand der Galaxie: das ekstatische Debüt von "Trak Trak"

"Sur Sur" könnte das Album sein, auf das Markus Söder gewartet hat. Voller energetischer Musik, die die Jugend aus den Corona-Risikogebieten da draußen zum Tanzen nach drinnen ins (dann nicht mehr) stille Kämmerchen treibt. "Ja, wir lieben die Cumbia und wir lieben das Tanzen", bestätigt Romina Schenone, Motor hinter der fränkischen Latino-Underground-Sensation Trak Trak. Cumbia sei ein Paartanz, erklärt sie, aber nicht so schwierig und grabschig wie Salsa. "Bei Cumbia, musst du nur deine Hüfte bewegen können." Romina Schenone kann das gewiss, sie ist mit diesem Sound in Argentinien aufgewachsen. Als Jugendliche arbeitete sie im Plattengeschäft ihres Vaters in Buenos Aires, dem ersten, in dem man Alben aus den USA bekam, weshalb sich dort die Musikerhelden der Stadt einfanden. So war sie dabei, als die Jugend des Landes in den Neunzigern die olle Cumbia für sich entdeckte und auf Partys spielte. Als Schenone als 18-Jährige 1995 der Liebe wegen nach Nürnberg übersiedelte, ließ sie ihren Musikgeschmack nicht zurück ("Argentinia forever!"). Sie infizierte ihren neuen Freundeskreis aus dem Künstlerkollektiv Hemdendienst mit ihrer Passion und brachte als DJ mit einem heimatlich gefülltem Plattenkoffer die Szene zum Tanzen.

"Lass uns das auch live als Band versuchen", sagte ihre Freundin Cyrena Dunbar, selbst als Tänzerin aus Kanada nach Nürnberg gekommen. Sie trommelten Freunde von Bands wie Wrong Kong oder Stadt aus Draht zusammen, und "la familia" legte los. "Ich bin immer sehr kritisch gewesen", sagt Schenone, die von der Kunstakademie kommt und hier erstmals selbst sang, "ich habe immer gesagt: Das ist überhaupt nicht Cumbia." Für Uneingeweihte freilich sind die acht Stücke auf dem Debüt-Album "Sur Sur" (Süd Süd), das es als Vinyl und auf Bandcamp zum Download gibt, Afro-Retro-Rambazamba, oder, wenn man will, eine "Bomba tropical". Für Co-Sängerin und Synthie-Spielerin Dunbar ist es ein "Mischmasch", gerade weil Robin Van Velzen unerhörte Bass-Läufe beisteuert und Michael Ströll mit seiner Wah-Wah-Gitarre einen seltsamen Texmex-Wüstenrock. Alles in allem also ein psychdelischer Sixties-Seventies-Cocktail aus dem Voodoo-Klub am fränkischen Ende der Galaxie.

Alles eskapistische Ekstase? Sicher nicht, Schenone legt der Vinyl-Edition extra ein Textblatt ihrer Parolen bei, die Spanisch- und Ironie-Unkundige leicht unterschätzen könnten, man soll sie aber mitsingen können. Inhalte sind ihr wichtig: "Ja, ich habe immer etwas zu sagen." Zum Beispiel in der Bolero-Ballade "Pólitico Psicodélico", einer "Hymne an die Politiker-Lügen" im Allgemeinen oder im Besonderen ein Abgesang auf Mauricio Macri, den Kapitalisten, Fussball-Boss und Ex-Präsidenten. "Ich habe geweint, als er gewählt wurde. Er hat unser Land zerstört."

Das sei seit 2019 unter Alberto Fernández schon besser. So hat der ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Abtreibungen erlaubt, aber die "Grüne Welle" des neuen lateinamerikanischen Feminismus habe noch viel zu tun, etwa die Gewalt der Macho-Sprache zu brechen (wovon sich auch die in ihren Augen "gemütlichen" Bayern etwas abschauen können). So macht sie sich in "Telefono" (nach dem irrsten "Rrr-tititi, Rrrr-titit" seit dem "Crazy Frog") eben über diese Musik lustig, weil in der Cumbia meist nur die Männer singen, die von "den bösen Frauen verlassen" wurden.

Und in "Esta Cancion Latina" fordert sie eine alle Geschlechter umfassende Musik ein: "Latinas, Latinos, Latines" - für alle soll Cumbia sein. Wenn Männer sie aber auffordern, "Los, schwing' deinen Hintern, Muchachita", dann stachelt sie die Frauen in "Aye Que tu" auf: "Tu Controlas tu cuerpo, tu controlas tu armas." Ihr kontrolliert eure Körper, ihr kontrolliert eure Waffen. Die 43-Jährige will die Jungen daran erinnern, dass Frauen vor ihnen für ihre Rechte gekämpft haben, unter anderem für das Recht, alleine tanzen gehen zu dürfen. Das hat nicht der Bayerische Ministerpräsident verfügt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5147130
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.12.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.