Neue Heimat:Keine Angst, keine spritzende Gischt, kein Salzwasser auf der Haut

Bootsfahrer auf dem Kleinhesseloher See, 2010

Bootsfahrer auf dem Kleinhesseloher See.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Nach seiner Flucht übers Mittelmeer kommen unserem Kolumnist aus Syrien die Bootsfahrten auf den deutschen Seen manchmal unwirklich vor.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Von Berchtesgaden ist es nicht weit zum Königssee. Die Aussicht auf die Berge ist phänomenal. Ich bestieg ein Ausflugsboot, das andere Ufer in Sichtweite, und die Oberfläche des Sees glitzerte wie ein Teppich von Diamanten. Ich hätte sie gern aufgesammelt. Ich war wie verzaubert, kein Gefühl von Angst, keine spritzende Gischt, kein Salzwasser auf der Haut.

Mitten auf dem See wurde plötzlich alles still. Kein Motorengeräusch mehr. Ich hatte schon Bedenken, dass ich den Rest der Strecke schwimmen müsste. Plötzlich griff ein Besatzungsmitglied zu einer Trompete. Doch es waren keine Piraten in Sicht. Vielmehr spielte er Musik, und am Ende ging er herum, und die Passagiere zückten ihre Geldbörsen.

In meiner früheren Heimat Syrien gibt es einen See, der liegt in Raqqa und hat eine Insel in der Mitte, zu der nur Politiker und Reiche Zutritt haben. Der See heißt Assad, wie der Präsident. Drei andere Journalisten und ich bauten einmal zu Recherchezwecken ein Floß aus Autoreifen und ruderten damit rüber auf die Insel. Dort sah es aus wie im Paradis.

Es gab viele Tiere und alles war schön grün. Leider hat die Polizei uns erwischt, und wir mussten die Insel schnell verlassen. Dumm auch, dass jemand unser Floß kaputt geschossen hatte, also bauten wir uns aus Ästen ein Provisorium und gelangten halb schwimmend zurück. Wir waren nass und hatten unsere Sachen verloren - eine gute Vorbereitung auf das, was bald darauf kommen sollte.

Seit meiner Flucht nach Deutschland kann ich alle Seen besuchen. Zum Beispiel den Bodensee, an den drei Länder grenzen. Dort setzen sich die Leute in Schlauchboote und paddeln über den See. Es kommen große Fähren vorbei, aber nicht, um die Schlauchbootfahrer zu retten, die Leute machen Selfies, und auf dem Schlauchboot lachen die Menschen.

Sie springen freiwillig ins Wasser, Kinder weinen höchstens, weil sie ein Eis wollen. Ich sagte zu meinen Freund: "Kneif' mich bitte mal." Hier tragen Menschen Schwimmwesten, die sie zumindest an diesem Nachmittag gar nicht brauchen.

Während meiner Flucht übers Mittelmeer saß ich in einem kleinen Gummiboot, zusammen mit 40 anderen Flüchtlingen. Nur ein Bein von mir hatte Platz - ich stand da wie ein Flamingo. Da der Kapitän des Bootes hinten stand und ich ganz vorne, half ich ihm beim Steuern. Die Leute saßen während der Überfahrt tagelang da und redeten kein Wort. Ich hörte sie nur atmen.

Bei uns gibt es den Tabaria-See, auch er liegt zwischen drei Ländern

In ihren Augen sah ich ihre Angst, die Küstenwache könnte kommen und sie zurückschicken. Stets war die Gefahr präsent, unterzugehen, da immer wieder Wasser ins Boot lief. Eine Frau hatte ein drei Monate altes Kind in ihrem Arm. Sie bat mich, ihr Baby zu retten, falls wir kenterten, da sie nicht schwimmen konnte.

Als die Küstenwache uns entdeckte, warfen wir den Motor ins Wasser, damit man uns nicht sofort zurückschickte. Ein paar von uns sind dann ins Wasser gesprungen und haben das Boot geschoben. Und dann waren wir endlich an einen Ort gelangt, wo die Menschen Eis aus Waffeln essen.

Es war eine schöne Zeit am Königsee, zwischen Touristen und Trompeten, und auch am Bodensee, zwischen den drei Ländern. Ein syrischer Mann sagte zu mir, er möchte zwei Wochen am Bodensee bleiben, weil er 15 Tage lang im Boot auf der Flucht war. Es ist seine Art, den Überlebenskampf zu verarbeiten.

Bei uns gibt es den Tabaria-See, auch er liegt zwischen drei Ländern, Palästina, Israel und Syrien. Doch die Länder streiten sich um den See. Ich wünschte, wir hätten auch Frieden und jeder könnte zwischen den Ländern hin und her pendeln. Wie sagen die Leute hier so schön: Wir sitzen doch alle im selben Boot.

Neue Heimat - Der andere Blick auf München
Vier Flüchtlinge, die in ihrer Heimat als Journalisten gearbeitet haben. Nach dem Porträt werden sie regelmäßig eine Kolumne schreiben. Fotografiert auf der Brücke im SZ-Hochhaus.

Der Autor: Mohamad Alkhalaf, 32, stammt aus Syrien. Bis 2015 arbeitete er für mehrere regionale Zeitungen, ehe er vor der Terrormiliz IS floh. Seit der Anerkennung seines Asylantrags lebt er in Kirchseeon.

Die Serie: Zusammen mit drei anderen Flüchtlingen schreibt Alkhalaf für die SZ eine Kolumne darüber, wie es sich in Deutschland lebt und wie er die Deutschen erlebt. Alle Folgen finden Sie auf dieser Seite.

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