Süddeutsche Zeitung

Neu-Ulm:Wie ein Mathelehrer Rechenmethoden per Videoclip lehrt

  • Sebastian Schmidt ist Mathelehrer an einer Neu-Ulmer Realschule. Er unterrichtet seine Schüler mit Videoclips, die sie zu Hause anschauen müssen.
  • In der Schule vertieft er das Gelernte und kann sich individueller um die Kinder und Jugendlichen kümmern.
  • Mit diesem Konzept des "Flipped Classroom" wird vor allem in den USA seit Jahren experimentiert.

Von Anna Günther, Neu-Ulm

In Sebastian Schmidts Rollkoffer könnte sich ein kleines Kind verstecken. Aber Schmidt fährt nicht in den Urlaub. Er läuft im Pausentrubel der Inge-Aicher-Scholl-Realschule in Neu-Ulm zwischen Schülern zum nächsten Klassenzimmer. An der Hand der Koffer mit 26 Tablet-PCs, über der Schulter die Tasche, auf dem Arm Laptop und Router. Wlan für die gesamte Schule wäre zu teuer - und dann seien da auch noch die Strahlungsskeptiker, sagt Schmidt und zuckt mit den Schultern.

Also trägt er den Router von Zimmer zu Zimmer. "Solange ich keinen Fachraum habe, muss ich mit Rollkoffer rumlaufen", sagt der 34-Jährige. Bis dahin schleppt Schmidt aus Überzeugung: Der Mathematiklehrer dreht das Prinzip des Unterrichtens um. In seiner Stunde üben Mädchen und Buben unter Aufsicht, den Stoff erklärt er ihnen per Video, das sie zuvor daheim als Hausaufgabe angesehen haben.

"Flipped Classroom" heißt das Konzept, in den USA experimentieren Pädagogen seit den Neunzigerjahren mit dieser Methode. Mittlerweile haben einzelne Highschools komplett auf umgedrehten Unterricht umgestellt. An der Clintondale High School in Michigan etwa, weil sich die Leistungen der Schüler in einem Langzeitvergleich deutlich verbessert hatten. In Deutschland war Sebastian Schmidt einer der ersten Lehrer, die den Erklärteil des Unterrichtens ausgelagert haben. Er suchte 2009 im Netz nach Lernvideos und probierte den Einsatz im Unterricht aus.

Seit vier Jahren arbeitet Schmidt in seinen Mathestunden konsequent mit Videos, 400 Filmchen hat er seither produziert. Der Aufwand war anfangs immens. "Ich habe viel rumprobiert, bis das Konzept stimmte, bis der Ton stimmte, bis mein Kopf nicht mehr violett war", sagt Schmidt. Mittlerweile brauche er zwei Stunden für vier Videos. "Anderthalb Stunden Powerpoint-Präsentation und dann kurz einsprechen." Zwar lernen derzeit alle drei sechsten Klassen mit seinen Videos Mathematik, aber Schulleiter Stefan Vielweib zwingt keinen Lehrer, mit Schmidts Ansatz zu arbeiten.

"Flipped Classroom" ist ein Konzept von vielen, um digitale Medien im Unterricht einzubauen. Andere Lehrer setzen auf "bring your own device", das die eigenen Geräte der Schüler einsetzt, oder verteidigen analoge Methoden. Niemand weiß, was sich langfristig durchsetzen wird. Auch Schmidt muss immer wieder versichern, dass er niemandem seine Methode aufzwingen will.

Der Erfolg ist schwer zu messen

Geht es um ihren pädagogischen Stil, reagieren viele Lehrer empfindlich. Die Crux ist, dass die Effektivität von Methoden kaum messbar ist. Erfolgsindikator sind Testergebnisse, die aber auch von Tagesform und Fleiß der Kinder abhängen. "Richtig guter Frontalunterricht kann die Schüler auch so begeistern, dass sie noch besser sind als mit Flipped", sagt Schulleiter Vielweib.

Technik und Aufwand schreckten andere Lehrer oft noch ab, gibt Schmidt zu. "Aber irgendwann gibt es zu allem gute Videos, dann muss niemand mehr eigene produzieren." Nur geben die wenigsten Pädagogen freiwillig die Vermittlung des Stoffes aus der Hand. Für Schmidt aber überwiegt der Vorteil für die Schüler. Sie können die Erklärvideos daheim so oft ansehen, bis sie alles verstanden haben.

In der Schule wird unter Aufsicht geübt, wenn sie Spaß haben und selbständig arbeiten, sind auch die Noten besser. In Schmidts Mebis-Profil im digitalen Bildungsnetzwerk des Kultusministeriums finden die Schüler Videos und Aufgaben, gestaffelt nach Schwierigkeitsgrad. Hat Schmidt sich damit nicht überflüssig gemacht? "Gar nicht! Ich bin hier, um die Schüler anzutreiben und zu korrigieren, dafür habe ich jetzt auch Zeit."

In der Klasse 6 c geht es an diesem Morgen ums Prozentrechnen. Schmidt teilt die 26 Kinder in Gruppen ein und gibt jedem zwei, drei Aufgaben. Er lässt einige bei den Freunden und setzt besonders Gute zu Schwächeren, damit erstere ihre Klassenkameraden mitziehen. In den ersten zehn Minuten lösen die Schüler still Aufgaben - im Übungsheft, auf Papier.

Die ersten stehen auf, fotografieren mit dem Tablet-PC einen QR-Code, den Schmidt über die Tafel projiziert und wählen sich so ins System ein. Die Ergebnisse der Rechenaufgaben ploppen nach und nach als Fotos im Netzwerk auf. "Dadurch haben wir alle Lösungen und die Schüler können sich gegenseitig korrigieren", sagt Schmidt. Wer mit seinen zugeteilten Aufgaben fertig ist, arbeitet weiter. Alle Kinder müssen alles ausrechnen, Übung bringt den Lerneffekt.

Wer Trubel und Trödelei erwartet, ist überrascht. Die meisten Schüler rechnen konzentriert oder diskutieren leise mit den Nachbarn. "Ich sehe genau, wer arbeitet und wer schwatzt. Da gehe ich sofort dazwischen. Ich weiß, welche Gruppen alleine gut zurecht kommen und wer Betreuung braucht", sagt Schmidt. Er ist von seinem Konzept überzeugt.

Danay, Rahel und Eliane sind begeistert. Seit Schuljahresbeginn lernen die Mädchen auf Schmidts Art. "Die Umstellung war nicht schwer, es ist einfach anders. Ich habe mich sogar sehr darauf gefreut", sagt die zwölfjährige Danay. Auf Mathematik? "Klar, das ist digitaler Unterricht, wer mag denn keinen digitalen Unterricht?", fragt sie. "Das macht viel mehr Spaß, weil wir uns die Gruppe aussuchen dürfen und gut zusammenarbeiten", sagt die elfjährige Rahel. Die Mädchen arbeiten still weiter, andere werden zappelig.

Schmidt unterbricht die Doppelstunde mit einem Klassen-Quiz zum Prozentrechnen. Digital, mit Lösungen zum Anklicken auf dem Smartphone. "So sehe ich sofort, was die Schüler verstanden haben", sagt der Pädagoge. Danach wird weitergerechnet, wer nicht fertig wird, muss die Aufgaben daheim machen. Es ist wieder still.

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SZ vom 29.05.2017/vewo
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