Naturschutzgebiet gefährdet:Kahlschlag im bayerischen Paradies

Ein Hotel, ein Baugebiet, eine Brauerei - Stück für Stück verschwindet die einzigartige Haglandschaft im Landkreis Miesbach. Charly Brutscher will sich das nicht mehr gefallen lassen: Er klagt vor dem Verfassungsgerichtshof auf Einhaltung der Alpenkonvention.

Christian Sebald

Sanftes Hügelland mit sattgrünen Wäldern und Weiden, dazwischen schmucke Einödhöfe: Die Haglandschaft rund um das oberbayerische Miesbach ist ein Juwel. Mitten im Voralpenland stehen hier auf einem etwa 30 Kilometer breiten und bis zu 20 Kilometer tiefen Streifen schier unendlich viele markante, oft Jahrhunderte alte Baumreihen aus Bergahorn, Eschen, Ulmen oder Kirschen. Unter den mächtigen Bäumen wachsen Haselnussbüsche, Wildrosen oder Weiden. Einst waren die Hage natürliche Zäune und Unterstände für das Vieh. Heute sind sie Lebensräume für Hasen, Rehe und Füchse, aber auch Erdkröten, Ringelnattern und Schmetterlinge. Und sie sind Nistplatz für allerlei seltene Vogelarten. Ein altes Sprichwort nennt das Miesbacher Idyll das "bayerische Paradies".

Karl Brutscher Hag Egarten Miesbach

Einer gegen alle: Charlie Brutscher, früherer SPD-Stadtrat.

(Foto: Manfred Neubauer)

Doch nun tobt ein heftiger und grundsätzlicher Streit um das Paradies, der womöglich Rechtsgeschichte schreiben dürfte. Aus dieser Auseinandersetzung könnte der Naturschutz in den bayerischen Bergen gestärkt hervorgehen.

Der Miesbacher Haglandschaft ergeht es wie vielen Regionen in Bayern: Wann immer ein Investor vor der Tür steht und Bauland haben will, zwacken es die Lokalpolitiker von ihr ab. Mal sind es elf Hektar für ein Gewerbegebiet, dann neun für die Getränkeabfüllanlage einer Brauerei, dann zehn für ein Wellnesshotel. Zuletzt waren es 1,3 Hektar für ein neues Wohngebiet für Einheimische. Und demnächst werden Landrat Jakob Kreidl (CSU) und seine Kreisräte befürworten, dass der Miesbacher Fleckvieh-Zuchtverband auf 3,5 Hektar Haglandschaft eine neue Halle für die Versteigerung seiner Rinder hinstellen darf.

Dabei ist die Miesbacher Haglandschaft doch seit 57 Jahren ein Landschaftsschutzgebiet. In ihr "dürfen keine Veränderungen vorgenommen werden, die geeignet sind, das Landschaftsbild oder die Natur zu beeinträchtigen", wie es kategorisch in der Verordnung heißt.

Viele Einheimische ärgern sich über den Flächenfraß in ihrer Heimat. "Das kann nicht sein, dass unser Landrat unsere einzigartige Landschaft zu einem Reservoir für Investoren verkommen lässt", hört man immer wieder. Auch bei den Umweltverbänden ist man entrüstet. "Für die meisten Kommunalpolitiker sind Landschaftsschutzgebiete Bauvoranfrage-Land", sagt Stefan Witty. Witty ist Geschäftsführer der Alpenschutzkommission Cipra, einer Dachorganisation zahlreicher Umweltverbände, die dem Schutz der Berge verpflichtet sind. Er kennt die Begehrlichkeiten im Alpenvorland nur zu gut. "Da mag der Vorteil noch so klein sein", sagt Witty, "so schnell kann man gar nicht schauen, wie dafür das Schutzgebiet aufgehoben wird."

Doch so sehr sich Einheimische und Naturschutzverbände empören, bisher konnten sie dem Flächenfraß in der Haglandschaft nichts entgegensetzen. Erst kürzlich ging ein Bürgerentscheid gegen die neue Fleckvieh-Versteigerungshalle verloren. Auch Charly Brutscher regt sich darüber auf, dass die Haglandschaft zusehends Schaden nimmt. Schließlich hat er es im Lauf der Zeit selbst beobachten können. 70 Jahre ist der pensionierte Finanzbeamte alt, Zeit seines Lebens hat er in Miesbach gewohnt.

Und er hat sich immer eingemischt. Brutscher saß 24 Jahre für die SPD im Miesbacher Stadtrat, er engagierte sich in Vereinen, er ist Vater der Miesbacher Baumschutzverordnung und anderes mehr. Brutscher ist aber auch einer, der im Zweifelsfall alleine gegen alle kämpft. "Das ist eine einzige Spezlwirtschaft hier", schimpft er. "Da spielt einer dem anderen den Ball zu, wie er will. Der Landschaftsschutz hat das Nachsehen, und wenn's so weitergeht, wird er es immer haben - egal wie viele Bürgerbegehren man startet."

Flächenfraß in Bayerns Bergen

Weil sich Brutscher das nicht länger ansehen will, hat er nun schweres Geschütz aufgefahren: Er hat Popularklage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof erhoben. Damit nicht genug: In seiner Klage stützt er sich auf die Alpenkonvention - das internationale Vertragswerk zwischen Deutschland und den anderen Alpenstaaten inklusive der EU zum Schutz und zur nachhaltigen Entwicklung der Alpen. Damit betritt Brutscher juristisches Neuland. Der Miesbacher ist der erste Kläger überhaupt in Bayern, der gegen die Ausweisung von Bauland die Alpenkonvention in Stellung bringt.

Naturschutzgebiet gefährdet: Bilderbuchbayern: Die typische Landschaft im Landkreis Miesbach. Doch Siedlungen fressen sich auch hier in die geschützte Natur.

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(Foto: OH)

Mit der Alpenkonvention ist das so eine Sache. Auf der einen Seite hat Deutschland und damit Bayern mit ihrer Ratifizierung alle ihre Vorgaben als verbindlich anerkannt. "Die Alpenkonvention hat dadurch in allen Alpenlandkreisen Gesetzescharakter", sagt der Cipra-Mann Witty. "Das gilt natürlich auch für den Artikel 11 ihres Naturschutzprotokolls." Auf den stützt sich Brutscher. Dort heißt es strikt, dass Schutzgebiete "zu erhalten, zu pflegen und, wo erforderlich, zu erweitern" sind und die Vertragsparteien alle Maßnahmen treffen, um in ihnen "Beeinträchtigungen und Zerstörungen" zu vermeiden. "Wenn man das ernst nimmt", sagt Witty, "dann geht es nicht, dass man in der Haglandschaft Baugrundstück um Baugrundstück ausweist."

Auf der anderen Seite sieht die Alpenkonvention keine harten Sanktionen gegen Verstöße vor, ein sogenannter Überprüfungsausschuss kann allenfalls Rügen aussprechen. "Völkerrechtlich gesehen ist die Konvention vergleichsweise schwach", sagt Witty. "Man kann mit ihr nicht vor den Europäischen Gerichtshof ziehen." Deshalb haben Umweltverbände wie der Bund Naturschutz stets gezögert, wegen einer Verletzung der Alpenkonvention zu klagen - auch wenn sie offenkundig war. Sie wollten keine Niederlage kassieren.

Gleichwohl ist die Alpenkonvention kein Papiertiger. Es kommt darauf an, welchen Status ihr die Unterzeichnerstaaten einräumen. In Tirol etwa scheiterten bereits mehrere Projekte, weil die Gerichte in ihnen klare Verstöße gegen die Alpenkonvention sahen. Der Ausbau einer Skischaukel oberhalb von Innsbruck wurde so verhindert und die Errichtung einer Seilbahn im Hochzillertal. In der Naturschutzszene ist deshalb die Spannung groß, wie sich nun der Verfassungsgerichtshof verhält. "Brutschers Klage ist der Präzedenzfall für Bayern", sagt Jochen Schumacher vom Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht in Tübingen. "Das Urteil kann sehr viel für den Alpenschutz in Bayern verändern." Wenn die Verfassungsrichter Brutscher recht geben, hätte der Flächenfraß in Bayerns Bergen ein Ende.

Im Oberland gibt man sich entspannt. "Natürlich sind wir uns unserer Verantwortung für unsere einzigartige Haglandschaft sehr bewusst", sagt Landrat Jakob Kreidl. "Wir achten genau darauf, dass wir eine bauliche Entwicklung nur dort zulassen, wo sie wirklich Sinn macht." So wie Kreidl auch für sich in Anspruch nimmt, nach naturschutzrechtlichen Vorgaben zu handeln - inklusive Alpenkonvention.

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