Naturschutz:Deutsche Gewässer sind in einem "beklagenswerten Zustand"

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Je weiter die Ilz fließt, desto schlechter geht es ihr. (Foto: Aconcagua/GFDL/Wiki Commons (CC BY 3.0))

Zu diesem Ergebnis kommt die Naturschutzorganisation BUND in ihrem jüngsten Report. Doch wie steht es wirklich um unsere Seen und Flüsse? Eine Spurensuche an der bayerischen Ilz.

Von Max Ferstl, Passau

Wie ein Zauberer dreht Karl Haberzettl den Stein in seiner Hand, den er gerade aus dem Wasser geholt hat. Er hält ihn ins Licht, lächelt wissend, weil der Trick funktioniert: Der Stein in seiner Hand scheint zu leben. Zwei schneckenartige Tiere kriechen davon. Ein Wurm richtet sich gemächlich auf. Dazwischen Larven von Köcherfliegen, länglich wie Zigarren. Karl Haberzettl wirkt zufrieden, obwohl er im Dauerregen in einem Bach steht: "Je mehr Tiere, desto besser die Qualität des Wassers." Hier, 50 Kilometer nördlich von Passau, wo der Oberlauf der Ilz verästelt ist in kleinen Bächen und Quellflüssen, ist also alles in Ordnung. "Es bewegt sich, es krabbelt, es kriecht. So soll es sein."

So ist es allerdings nur noch selten. In lediglich sieben Prozent der deutschen Flüsse kommen jene Kleintiere, Fische und Pflanzen vor, die man dort erwarten würde. Die Naturschutzorganisation BUND kritisiert in ihrem jüngsten Gewässerreport, die meisten deutschen Flüsse, Seen, Bäche und Tümpel seien in einem "beklagenswerten Zustand".

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Der Fluss an sich musste in der Vergangenheit schon einiges aushalten. Der Mensch hat ihn begradigt, verbaut, in ein Betonkorsett gezwungen, durch aggressive Landwirtschaft mit Pestiziden verseucht. Er hat den Fluss unterworfen. Die Probleme sind lange bekannt. Im Jahr 2000 hat die Europäische Union ein sperriges Regelwerk verabschiedet, das Flüsse anhand unzähliger chemischer und biologischer Kriterien bewertet - die Wasserrahmenrichtlinie. Sie sollte bewirken, dass sich Flüsse wieder ihrem ursprünglichen Zustand annähern. Es sollte wieder krabbeln und kriechen.

Wehre wurden beseitigt, Fischtreppen um Wasserkraftwerke hochgezogen, damit sich die Fische freier bewegen können. Doch der große Effekt blieb aus. In Deutschland hätten bis 2015 alle Flüsse die Richtlinie erfüllen sollen - eingetroffen ist das nur für jeden zwölften. Nun soll es bis spätestens 2027 klappen.

Zum Beispiel: die Ilz. Sie entspringt nahe der deutsch-tschechischen Grenze im Bayerischen Wald, nimmt auf Höhe der Ortschaft Eberhardsreuth Fahrt auf und mündet etwa 40 Kilometer weiter in die Donau. Ihr Wasser wirkt durch den erdigen Boden sehr dunkel, fast schwarz. Hier am Oberlauf, sagt Naturschützer Haberzettl, sei die Ilz "ein Juwel". Doch das ändert sich, je weiter sie fließt.

Vorbei an der Ettlmühle, Richtung Süden, wölben sich die Bäume über das Wasser, als hätten sie dicke Bäuche. Die Ilz schlängelt sich gemächlich durch Wiesen, auf denen das Gras hüfthoch wuchert, dazwischen gelbe und lila Blumen. Nur selten sind an den Ufern bewirtschaftete Felder zu sehen. "Es lastet kein Druck auf der Natur", sagt Haberzettl. Und damit lastet auch kein Druck auf der Ilz. Im bayerischen Umweltatlas, der Daten von mehr als einhundert Messstellen sammelt, ist der Oberlauf grün eingefärbt. Grün ist gut.

Plötzlich steht da ein Haus im Fluss. Davor staut sich das Wasser, ehe es gurgelnd in Turbinen fließt. Die Schrottenbaummühle erzeugt 500 000 Kilowattstunden Strom pro Jahr. Sie ist ein recht kleines Kraftwerk, das ein benachbartes Gasthaus und einen Campingplatz versorgt. Menschen brauchen Strom, der Fluss kann ihn liefern. Und solange das Geschäft nicht zu einseitig ausfällt, kann Haberzettl gut damit leben: "Es ist im Rahmen dessen, was ein Fluss verträgt." Im Gewässeratlas ist die Ilz auch im Abschnitt Schrottenbaummühle grün markiert. Im Wasser unterhalb des Kraftwerks zucken dunkle Schatten. Bachforellen, vermutet Haberzettl.

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Ein Fluss ist ein ambivalenter Ort. Das Wasser fließt weg, der Fluss bleibt da. Er verbreitet tiefe Ruhe, selbst wenn das Wasser rauschend über die Steine rast. Wer an einem Fluss aufgewachsen ist, den zieht es oft dahin zurück. Oder er bleibt einfach da. Wie Karl Haberzettl, 64, der in Salzweg nördlich von Passau aufgewachsen ist, vier Kilometer von der Ilz entfernt. Er ist früher immer an den Fluss geradelt, hat in ihm gebadet und dort geangelt - bis er feststellte, dass Fische seltener anbissen. Er spürte, wie etwas im Fluss kippte, und er wollte nicht tatenlos zusehen. Seit 33 Jahren sitzt er dem Bund Naturschutz Passau vor, hat mal hier ein Kraftwerk verhindert und mal dort einen Radweg begrenzt. Inzwischen glaubt Haberzettl, ein grundsätzliches Problem erkannt zu haben: "Jeder Quadratmeter muss irgendwie genutzt werden. Alles muss für uns einen Zweck haben. Nie darf Natur einfach Natur sein."

Er steht jetzt auf einer riesigen Mauer, die vor Jahrzehnten in die Ilz gerammt worden ist. Das zugehörige Kraftwerk produziert Strom für 4000 Haushalte. Haberzettl, mit Trekkingstock und schweren Wanderstiefeln, blickt auf den ausladenden Stausee Oberilzmühle, er sieht: tiefgrüne Bäume, dunkles und klares Wasser, ein würdiges Postkartenmotiv. "Sieht idyllisch aus", sagt er, "ist es aber nicht". Seit mehreren Kilometern schon ist die Ilz im Gewässeratlas nun gelb markiert. Weil das Wasser nicht richtig fließt, setzt sich am Grund tonnenweise Schlamm ab, verstopft die kleinen Zwischenräume, die Barben oder Forellen bräuchten, um ihre Eier abzulegen. Auch Algen gedeihen hier prächtig. Sie entziehen dem Wasser Sauerstoff und anderen Tieren damit die Lebensgrundlage. Zu sehen ist davon nichts.

Die Probleme heute sind weniger offensichtlich als früher. Viele Jahre leiteten Fabriken ihre Abwässer ungefiltert in die Flüsse, Landwirte düngten ohne Rücksicht und Regeln. Der ganze Dreck sammelte sich in den Wasserläufen, die schäumten und stanken wie Kloaken. "So gesehen haben wir viel erreicht", findet Christian Wolter vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. In den Flüssen gebe es deutlich weniger Schadstoffe, doch das genüge nicht. "Viele Lebensformen sind trotzdem nicht zurückgekehrt." Bestenfalls stagniere die Entwicklung, eher sei sie sogar rückläufig.

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Wolter bezweifelt, dass Bund und Länder sich mit der notwendigen Vehemenz um die Wasserrahmenrichtlinie bemühen, also darum, dass Flüsse wieder Flüsse sein dürfen. "Es gab kaum ernsthafte Anstrengungen, Flüssen ihre natürliche Dynamik zurückzugeben." Anstatt Wehre zurückzubauen, würden neue Kraftwerke geplant - als ob es davon nicht schon genug gäbe. Deutsche Flüsse fließen im Stop-and-go. Etwa 200 000 Wehre blockieren bundesweit den Weg des Wassers, durchschnittlich alle zwei Kilometer eines. Ob und wie viele solcher Anlagen in den vergangenen Jahren zurückgebaut wurden, weiß keiner. Daten werden nicht erhoben. Aus den Augen, aus dem Sinn.

An einem kleinen Seitenbach der Ilz springt die Öko-Ampel des Gewässeratlasses um auf Orange. Die Umgebung hat sich verändert. Wo am Oberlauf noch Wildwuchs an den Ufern herrschte, sind jetzt ordentlich vermessene Äcker. Zwischen einem Feld mit zarten Maispflanzen und dem mäandernden Bach steht Haberzettl auf einem schmalen Streifen Wiese. Der soll bei Regen verhindern, dass Erde, Gülle und Pestizide vom Feld in den Bach geschwemmt werden. Was als grüner Schutzwall gedacht ist, "ist viel zu schmal", schimpft Haberzettl. "Das bisschen Gras hält nix auf." In fast allen Bundesländern ist ein breiter Randstreifen zwischen Feld und Bach vorgeschrieben, in Bayern nicht.

Der Mensch pflegte lange ein gleichgültiges Verhältnis zu den Dingen, die ihn umgeben: Wasser, Erde, Luft. Gerade hat die EU Deutschland verklagt, weil die Luft in den Städten schlechter ist als erlaubt. Obwohl an den Folgen jährlich Tausende sterben, wird bisweilen eher darüber diskutiert, ob nicht vielleicht der Grenzwert zu streng sei. Dass auch die Flüsse leiden, scheint noch weniger zu stören. Aber sie leiden, mit Folgen. Die Flussperlmuschel verschwindet aus europäischen Flüssen, der Lachs kann sich nicht mehr ohne aufwendige Hilfe vermehren. Wenn Deutschland die Richtlinie zum Wohle der Flüsse nicht einhält, droht auch beim Gewässerschutz eine Klage durch die EU. "Das passiert ganz sicher", glaubt Wolter. Und zwar nicht, weil die Richtlinie besonders streng wäre, wie es im Bericht des Umweltbundesamtes steht. Sondern weil "wir zwar unheimlich viel über Nachhaltigkeit reden, aber wenig dafür tun".

Die Ilz windet sich auf ihren letzten Kilometern wie eine Schlange. Auf einer Brücke steht ein Schild, das die Ilz als "Flusslandschaft der Jahre 2002/2003" rühmt. Gewiss ein schöner Titel, wenngleich er gegen schwächelnde Konkurrenz errungen wurde. Die Ilz ist weniger gezeichnet als viele andere Flüsse, doch sie teilt mit ihnen ein Schicksal: Je weiter sie fließt, desto schlechter geht es ihr. Fast sinnbildlich wird sie auf den letzten Metern von der Zivilisation einbetoniert, bevor sie sich mit der Donau vereint. "Das hat mit Natur nichts mehr zu tun", findet Haberzettl.

Der Naturschützer, vielmehr: der Flussschützer, ist in der Bucht eines Passauer Campingplatzes wieder ins Wasser gestiegen und hat schon mehrere Steine umgedreht. Auch am letzten rührt sich nichts. Keine Schnecke, kein Wurm, keine Larve, kein Leben. Haberzettl wirft den Stein zurück in die Ilz. Ein paar ringförmige Wellen verlaufen sich, dann ist die Oberfläche wieder glatt. Hier wirkt kein Zauber mehr.

© SZ vom 30.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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