Schon bald nach der Geburt fiel der Mutter auf, dass ihr Baby nicht auf seine Umwelt reagierte. Der Kinderarzt konnte ihr nicht helfen, der kleine Manfred erlitt weiterhin regelmäßig Krämpfe, die sich in kurzen Abständen wiederholten. Im November 1943 wurde das Kind schließlich in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen. Nur wenige Wochen später, zwei Tage vor Weihnachten, erhielt die Mutter die Nachricht, dass ihr Sohn gestorben sei. Der Leiter der Anstalt, Valentin Faltlhauser, so steht es auf einer der Schautafeln, war davon überzeugt, Menschen und auch Kinder von ihrem Leiden zu erlösen, indem er sie der Euthanasie zuführte. Heute erinnert in Augsburg ein Stolperstein an Manfred Dax, der nur drei Jahre alt geworden ist.
Die kurze Lebensgeschichte des kleinen Manfred ist nur eines von vielen Beispielen in der Wanderausstellung „Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“, die das Leiden von Kindern mit Beeinträchtigung in dieser Zeit zum Thema hat – und den damit einhergehenden Rassenwahn der herrschenden Elite. Seit 2012 zeigt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin die Ausstellung, bisher machte sie in 18 Städten Station, nun ist sie bis Ende Februar im Kreuzgang von St. Anna in Augsburg zu sehen. Mehr als 5000 Kinder und Jugendliche starben unter den Nazis allein in sogenannten Kinderfachabteilungen, eigens für die Tötung geschaffenen Einrichtungen, die die Behörden über das gesamte Land verteilt einrichteten. Mit der Ausstellung, heißt es im Flyer zum Projekt, solle „auf ein dunkles Kapitel deutscher Medizingeschichte aufmerksam gemacht“ werden.

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„Kind K“ steht für den Beginn der systematischen Krankenmorde im Jahr 1939, als ein Ehepaar aus Sachsen ein Gesuch zur Tötung seines schwerbehinderten Sohnes an Adolf Hitler richtete. Wahrscheinlich wurde das Kind – mit Billigung des „Führers“ – im Juli desselben Jahres in der Universitäts-Kinderklinik in Leipzig getötet. Kind K soll Hitler bewogen haben, ein Euthanasie-Programm ins Leben zu rufen. Es gibt ein entsprechendes Schriftstück vom 1. September 1939, ein Euthanasie-Gesetz dagegen wurde nie verabschiedet – die Krankenmorde, die medizinischen Versuche an Kindern und Experimente für Forschungszwecke unterlagen strikter Geheimhaltung.
Dabei kam das zugrunde liegende Gedankengut nicht erst mit den Nationalsozialisten auf. Die Ausstellung zeigt Auszüge aus Werken, publiziert in der Weimarer Republik, die „die Beseitigung der geistig völlig Toten“ nicht als Verbrechen darstellen, sondern als „erlaubten nützlichen Akt“. Damals allerdings gab es noch wirkmächtigen Widerspruch. Sinn der Wanderausstellung, sagt der emeritierte Professor für Kinder- und Jugendmedizin Hans-Michael Straßburg, sei es aufzuzeigen, wie es dann im Nationalsozialismus zu Exzessen gekommen ist, um das Phänomen besser zu verstehen – und um die Erinnerung an die gequälten und ermordeten Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen aufrechtzuerhalten. Viele Details, sagte Straßburg bei seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung, seien bis heute nicht aufgearbeitet, noch immer würden die Namen ermordeter Patienten, auch von Kindern, entdeckt und ihr Schicksal nachverfolgt.
Tod einer 15-Jährigen nach Zwangssterilisation
Für die Schau in Augsburg haben die Organisatoren um die Allgemeinärztin Elisabeth Friedrichs lokale, teils wenig bekannte Schicksale aufgearbeitet, unter anderem auch von der 15 Jahre alten Annemarie S., die am 3. Mai 1939 an den Folgen einer Zwangssterilisation starb. Ein überzeugter Rassenhygieniker am Gesundheitsamt Augsburg bescheinigte ihr „angeborenen Schwachsinn“ – wohl schlicht deshalb, weil ihre Eltern sehr arm waren. Annemaries Vater verweigerte die Zustimmung zur Sterilisation, ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht am Amtsgericht Augsburg aber fällte das Urteil ohne Anhörung der Tochter oder ihrer Eltern. Am 14. Juli 1933 hatten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, das die zwangsweise operative Unfruchtbarmachung bei einigen als Erbkrankheiten angesehenen Leiden legalisierte – bereits Zehnjährige konnten sterilisiert werden. Die Akten von Annemarie S. zeugen von einer Bauchfellentzündung. Ihr Operateur bei der Zwangssterilisation erhielt ein Extrahonorar für den Eingriff.
Die Ausstellung hat ein Begleitprogramm mit Filmen und Vorträgen, laut Organisatorin Friedrichs sind bereits zahlreiche Führungen unter anderem für Angestellte in Heil- und Pflegeberufen gebucht. Im Angebot sind auch Veranstaltungen für Gehörlose mit Gebärdendolmetscherinnen. „Wir wollen möglichst viele Menschen erreichen, um die Erinnerung an diese Medizinverbrechen wachzuhalten“, sagt Friedrichs.