Süddeutsche Zeitung

Nahtoderfahrungen:"Du hast einen Riss in der Schüssel"

Menschen mit Nahtoderfahrung erleben häufig negative Reaktionen - und behalten sie deshalb lieber für sich. Dieter Becker jedoch ist unter der Gruppe der "Beschenkten" zu einem kleinen Star geworden.

Von Anton Rainer

Im Himmel trägt niemand bauchfrei. Dieter Becker hat das selbst verifiziert, als er am 23. April 2013 zum "Himmigugger" wurde, zu einem "Beschenkten", wie er sagt. "Ich war einfach da, in einer abstrakten Welt", erinnert sich Becker, "es war hell, freundlich, warm, pastellfarben. Dann stand Laura da, eine Freundin, die mit 48 gestorben ist, sie trug ein langes, weißes Gewand. In ihrem Leben hat sie immer ausgefallene Kleidung getragen, auch mal bauchfrei. Mich hat es geschüttelt vor Lachen."

Becker hatte in dieser Nacht eine Schlafapnoe, eine lebensbedrohliche Atemnot, doch "da drüben" schien alles in Ordnung, ein sanfter Weg ins Licht. "Merkwürdig war der Boden, wie Ostseesand, warm und weich. Dann bin ich wieder zu mir gekommen, mein Gesicht war tränennass, es war halb fünf Uhr morgens." Dieter Becker hatte eine Nahtoderfahrung.

Ein silbernes Edelstahl-Kreuz erinnert den 69-Jährigen heute an diese Nacht, er trägt es an einer Halskette und legt es niemals ab, auch nicht in der Sauna. Es ist "unkaputtbar", sagt er, deswegen war das auch mit der Gravur so schwierig. "Gott ist das Licht" ließ er sich schließlich einritzen, und auf den Querbalken die Worte "Liebe" und "Wärme". Becker hat lange nach dem passenden Laser gesucht.

Unter der Gruppe der "Beschenkten" ist der Rentner mit dem Edelstahl-Kreuz zu einem kleinen Star geworden. In einem großen schwarzen Ordner trägt er Statistiken mit sich herum, Angaben darüber, wie oft er schon über seine "NTE", seine Nahtoderfahrung, erzählt hat. Filme: 8, Interviews: 22, Eigene Vorträge: 34. Dieter Becker, das merkt man, ist keiner, der seinen Ausflug ins Jenseits für sich behalten will. Dabei war das einmal anders.

Nachdem sich Becker in der Nacht des 23. April 2013 die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, war er erst mal perplex. Drei Tage lief er "wie blöd" durchs Haus, sprach mit niemandem über seine Erfahrung, grübelte und überlegte. Am vierten Tag erzählte er es seiner Frau. Die sagte: "Du hast einen Riss in der Schüssel, du hast getrunken, du bist verrückt." Eine typische Reaktion, sagt Becker, eine Reaktion, die viele Menschen verstummen lässt.

Rund vier bis fünf Prozent der Deutschen, schätzen Forscher, haben zumindest einmal in ihrem Leben eine Nahtoderfahrung gemacht. Es gibt massenhaft Fachliteratur, wissenschaftliche, religiöse, esoterische, die Aufmerksamkeit für das Thema ist groß. Und doch braucht es Selbsthilfegruppen, die Betroffenen einen sicheren Raum bieten, davon zu erzählen.

In Augsburg gibt es solche Treffen, auch in Regensburg und München, wo sich rund 100 Mitglieder regelmäßig über Nahtoderfahrungen austauschen. Für das Jahr 2020 ist ein Kongress an der Hochschule für Philosophie geplant. Es ist ein Versuch, das Schweigen zu brechen.

"Ich kenne eine Frau, die 30 Jahre lang nicht über eine Erfahrung sprechen wollte, die sie als Kind gemacht hat", sagt Hannelore Schillinger, "weil ihre Eltern sie für verrückt hielten. Von da an hat sie einfach geschwiegen." Schillinger, eine zierliche ältere Dame, trägt rosa, Pullover, Schal und Mütze, als sie in einem Münchner Café von ihrer eigenen Nahtoderfahrung erzählt. Wegen einer chronischen Quecksilbervergiftung lag sie 1996 in einer Klinik, schwach und abgemagert. "Ich war 49", sagt sie, "habe aber ausgesehen wie 100". In jener Nacht verschlechterte sich ihr Zustand, an hoch dosierten Entgiftungstabletten wäre sie beinahe gestorben: "Ich raste durch einen Tunnel, wollte mit den Händen bremsen, doch es half nichts. Dann fand ich mich in einem Palast wieder, mit großen, weißen Säulen, ich fühlte mich unendlich geliebt." Schillinger wollte dieses Gefühl, diese Präsenz "sofort heiraten", wie sie sagt. Stattdessen krachte sie zurück in ihren Körper - und stand drei Tage nicht mehr vom Bett auf.

Von Betroffenen werden Nahtoderfahrungen meist als transformatives Erlebnis wahrgenommen. Schlafstörungen und Depressionen sind häufige Folgen, rund die Hälfte der Ehen und Partnerschaften zerbrechen an der Belastung. Freunde wenden sich ab. Einer 17-Jährigen, die sich einmal nach einem Schulvortrag mit dem Wunsch nach einer Nahtoderfahrung bei ihm meldete, riet Dieter Becker: "Wünschen Sie sich das nicht, Sie sind dann nicht mehr die, die Sie einmal waren." Becker glaubt seitdem an Reinkarnation.

Neurowissenschaftler haben freilich einen unspektakuläreren Blick auf derartige Berichte: Alles nur Biochemie, sagen sie, ein Neuronen-Feuerwerk, welches das Gehirn in Ausnahmezuständen abfeuert. Für entsprechende Studien wurden bereits sterbende Ratten verkabelt und Katzen ins künstliche Koma versetzt - und siehe da: Das Hirn pulsierte und setzte Strömungen in Gang, wie sie sonst nur heftige Drogentrips auslösen. Eine mögliche Erklärung, natürlich, ebenso wie die Berichte über Nahtoderfahrungen, die sich überall ähneln. Licht, Tunnel, Liebe, geliebte Menschen: Überall auf der Welt sehen sterbende Menschen, ob Gläubige oder Atheisten, dasselbe. Das Gehirn ist eben überall gleich, sagen Forscher. Der Himmel ist eben überall gleich, sagen Betroffene.

Ihnen nutzt die Diskussion über wissenschaftliche Erklärungen ohnehin nur wenig. Was "Beschenkte" erleben, ist mit "Neuronal-Schwingungen" und bunten Elektroden unzureichend beschrieben. Für sie sind Nahtoderfahrungen in jeder Hinsicht "echt", ein emotionales Erdbeben. Vielleicht reagieren sie auch deshalb allergisch auf vermeintliche Scharlatane. "Ich erlebe das immer wieder, dass Leute behaupten, sie hätten eine Nahtoderfahrung gehabt", sagt Dieter Becker, "wenn ich sie dann die Greyson-Skala ausfüllen lasse, ändert sich das".

Die Skala wurde in den 1980er-Jahren von einem amerikanischen Psychiater entwickelt, es ist eine Art Multiple-Choice-Test für Nahtoderfahrene. 16 Fragen müssen beantwortet werden, zu Licht und Liebe und außerkörperlichen Gefühlen. Unter sieben Punkten ist das Ergebnis "nicht relevant", der Durchschnitt sind 15 Punkte, Becker hatte nach eigenen Angaben 17. "Mit der Skala kann man knallhart sagen: Du hattest eine Nahtoderfahrung oder du hattest keine!" Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Eines Tages wird Becker den Weg ins Licht bis zum Ende gehen, er wird abgeholt werden und keine Angst empfinden, "weil man ja wiederkommt". Inzwischen ist er überzeugt: Der Tod ist nichts anderes als die "Rückkehr zu unserem eigentlichen Wesen", eine Zwischenstation. Das erzählt er seit der Nahtoderfahrung immer wieder. Seinen ersten Vortrag, vor fünf Jahren, hat er vor Atheisten gehalten, das war seine Feuerprobe. Als sie am Ende noch immer nicht ans ewige Leben glauben wollten, dachte er: "O Gott, was sind das nur für arme Hunde." Aber er dachte auch: "Die werden ihre Überraschung erleben."

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SZ vom 31.10.2018/baso
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