In wenigen Stunden ist Martin Brommer ein freier Mann. Was er sich während der Haft und der Sicherungsverwahrung an Eigentum erworben hat, ist bereits in zwei Pappkartons verpackt: zwei Jeans, eine Lederjacke, Unterwäsche, ein paar Ersatzsocken, seine Musikanlage mit Alben von den Dire Straits, Pink Floyd und Nazareth sowie das wertvollste Stück, ein Flachbildfernseher.
Tiefe Augenränder überschatten Brommers Gesicht (Name geändert). Die bevorstehende Entlassung, die er einem Gerichtsbeschluss verdankt, löst zwei Gefühle in ihm aus: die Freude, wieder in Freiheit zu sein - und unverhohlene Wut. "Ich werde ohne Vorbereitung entlassen. Das ist doch kriminell", sagt er.
Brommer gehört zu jenen derzeit noch neun Männern, die in Bayern in den Bezirkskrankenhäusern Straubing und Erlangen nach den Vorgaben des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) festgehalten werden. Dieses Gesetz trat Anfang 2011 in Kraft und regelt die Unterbringung von verurteilten Straftätern, die nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und einem daraus resultierenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) in Sicherungsverwahrung genommen werden dürfen.
Der Europäische Gerichtshof hatte es als Verstoß gegen die Menschenrechte erachtet, dass bei inhaftierten Straftätern in Deutschland nachträglich eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte.
Um die Gesellschaft auch weiterhin vor als gefährlich eingestuften Kriminellen schützen zu können, wurde ein neues Gesetz eingebracht, das ThUG. Es gestattet, Straftäter auch nach Verbüßung ihrer Haftstrafe festzuhalten - unter einer Bedingung: Ein Gericht muss feststellen, dass die betreffende Person psychisch so gestört ist, dass sie andere Menschen gefährden könnte.
Der 50-jährige Martin Brommer wurde in diese Kategorie eingeordnet. Seit Mitte Dezember 2011 ist er im Bezirkskrankenhaus Straubing untergebracht. Sein Fall ist aber nicht vergleichbar mit jenem von Gustl Mollath, der als psychisch kranker Straftäter eingestuft wurde.
Seit dem 14. Lebensjahr hinter Gittern
Im Grunde sitzt Brommer seit seinem 14. Lebensjahr hinter Gittern - mit kurzen Unterbrechungen. Die Liste seiner Straftaten ist ebenso lang wie beängstigend: schwere Körperverletzung, Raub, Einbrüche, Vergewaltigung. Brommers Lebenslauf ist geradezu klassisch für eine kriminelle Laufbahn. Im Stakkato berichtet er über diese Zeit: "Heimaufenthalte, weitergereicht, sieben, acht Pflegeeltern, dann Jugendknast."
In einem der Heime, geführt von Patres, kam es zum Eklat. Brommer weigerte sich, im Kirchenchor mitzusingen. "Es hat Hiebe gegeben wie die Sau, das habe ich einige Wochen lang mitgemacht. Dann habe ich dem Pater, der mich so geprügelt hat, mit dem Billardqueue gescheit eins drübergehauen." Als die Polizei kam, um ihn abzuholen, sagte Brommer: "Bitte nehmt's mich mit."
Mit einigen späteren Delikten geriet er in die Schlagzeilen. Er war Teil jener Bande, die in Münchner Lokalen, etwa im Donisl, Gäste mit K.-o.-Tropfen betäubte und beraubte. "Ich habe schlimme Straftaten begangen", sagt er. Dass er dafür den größten Teil seines bisherigen Lebens hinter Gittern sitzen musste, akzeptiert er: "Ich bin zu Recht eingesperrt gewesen." Aber nun sei die Zeche bezahlt, und er wolle draußen ein neues Leben beginnen. "Doch wie?", fragt er sich.
Einem Richter teilte er vor gut einem Monat seine Bedenken mit: "Gespräche mit Personen von draußen finden nicht statt, obwohl ich vorschlug, welche von der Agentur für Arbeit, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer usw. zu laden." Und da sei er kein Einzelfall. Vor ihm seien in Straubing bereits drei ThUG-Probanden "ohne jede Vorbereitung" rausgekommen. Das Bezirkskrankenhaus Straubing verweist hier auf die Rechtslage: In der Regel würden ThUG-Klienten zur Entlassungsvorbreitung in heimatnahe Bezirkskrankenhäuser verlegt. Werde aber die Entlassung durch ein Gericht angeordnet, so habe sie "unmittelbar zu erfolgen".
Brommer sagt, es wäre genug Zeit gewesen, ihn vorzubereiten. Er macht aus seiner Wut keinen Hehl. Nun werde er entlassen und verstehe "die Welt da draußen nicht".
An heißen Tagen wie diesen ist die Luft hinter den Mauern des Bezirkskrankenhauses Straubing schwül und der Blick aus den vergitterten Fenstern der ThUG-Abteilung nicht minder trist als sonst. Doch das ist nicht der Grund, warum Brommer sagt: "Die letzten zweieinhalb Jahre hier waren schlimmer, als es in jedem Zuchthaus der Fall wäre." Selbst die Sicherungsverwahrung in der JVA Straubing sei besser gewesen: "Drüben im Knast, da war es hart, aber ehrlich!", sagt er. "Hart", dieses Wort ist fast untertrieben. "Ich habe Leute runtergeschnitten, die sich aufgehängt haben", sagt er. In zwei Fällen war Brommer an Schlägereien beteiligt und wurde dafür bestraft - unter anderem mit Arrest.
Im Bezirkskrankenhaus hat er in der Zeit danach auf grünem Papier einen Stoß von Beschwerdebriefen verfasst. Darin erklärt er etwa, nie einen Therapieplan zu Gesicht bekommen zu haben, obwohl dieser gerichtlich angeordnet worden sei. "Jeder ThUG-Klient erhält einen Therapieplan", heißt es aus dem Bezirkskrankenhaus. Allerdings: Bei einer Anhörung hatte eine Therapeutin erklärt, dass "das Herzstück eines solchen Plans" fehle - die Angaben des Klienten "zu seiner persönlichen Zielsetzung". Sprich: Brommer habe sich verweigert. Dessen Anwalt Adam Ahmed indes erklärte, ein Therapieplan für seinen Mandanten hätte von Anfang an vorliegen und mit ihm besprochen werden müssen.
Am schlimmsten, so beschwert sich Brommer, sei für ihn aber das Fernhalten von den psychisch kranken Straftätern gewesen. "Das ist Isolationshaft", sagt er. Im Knast habe er zu vielen Mitgefangenen Kontakt gefunden. Das Bezirkskrankenhaus Straubing sieht sich da allerdings nicht in der Verantwortung und verweist auf "Bestimmungen" des Sozialministeriums zur Umsetzung des ThUG in Bayern. Allerdings hatten die Bezirke selbst auf solch eine Regelung gedrängt - aus der Sorge heraus, ausgebuffte Kriminelle könnten die dort einsitzenden Patienten aufwiegeln oder für ihre Zwecke missbrauchen.
Die Isolation der ThUG-Probanden führt offenbar auch zu Konflikten mit der zuständigen Therapeutin. Die berichtete bei einer Anhörung von "Beschimpfungen, Kränkungen und Herabwürdigungen". "Wir sind Zielscheibe für verbale Angriffe", sagte sie laut Protokoll aus. Auch unter den Probanden kriselt es. Ein paar nicht gleich weggewischte Tropfen Speiseöl auf dem Herd reichen da aus, um einen handfesten Streit zu entfesseln.
Brommer ist froh, dem allen jetzt zu entkommen. Er blickt seine tätowierten Arme hinab, verharrt kurz auf dem goldenen Ring am Finger. "Ich habe ja noch riesiges Glück. Draußen wartet meine Lebenspartnerin auf mich, da kann ich jetzt hin", sagt er. 20 Jahre lang sei sie im Bezirkskrankenhaus beschäftigt gewesen, und zwar als Ergotherapeutin. Bei einer Beschäftigungstherapie hätten sie sich kennengelernt, kurz vor ihrer Pensionierung. Seither habe sie ihn zweimal die Woche besucht, täglich mit ihm telefoniert.
"Morgen bekomme ich die elektronische Fessel an den Fuß - aber meine Gefährtin, die ist meine biologische Fußfessel", sagt er schmunzelnd. Dann zeigt er auf ein Formular, das ihm eine Sozialarbeiterin des Hauses in die Hand gedrückt habe. Darauf steht "Antrag auf Sicherung des Lebensunterhalts". "Was ist das?", fragt er, "so was habe ich noch nie gesehen."
Am nächsten Tag, kurz nach elf Uhr, steht Brommer in Freiheit vor der hohen Mauer der forensischen Klinik - mit zwei Pappkartons in der Hand und 40 Euro in der Tasche. Kurz darauf fährt er mit dem Taxi zu seiner Partnerin. Er wollte eigentlich gleich Behördengänge erledigen, ein Konto eröffnen, den abgelaufenen Pass erneuern. Doch Behörden und Banken haben am Freitag nicht so lange geöffnet, wie er sich das vorgestellt hatte. Stattdessen werden andere Pläne geschmiedet: eine Einkaufstour am Nachmittag. Es ist das erste Mal, dass das Paar unbeobachtet Zweisamkeit genießen kann.
Sorge vor der Hetzjagd
Und doch, das erhoffte Gefühl von Glückseligkeit will sich nicht wirklich einstellen. Zu groß ist die Sorge vor einer nun beginnenden "Hetzjagd" auf den entlassenen Straftäter. Aus den Medien wissen sie, wie groß das Misstrauen gegen ehemalige Sicherungsverwahrte ist. In Bayern gibt es nach Angaben des Justizministeriums derzeit 51 Sicherungsverwahrte, 48 von ihnen sind in der JVA Straubing untergebracht. Circa 60 Prozent sind Sexualstraftäter, 40 Prozent Gewalttäter.
Brommer sagt, er sei heute ein anderer. "Bin ich gefährlich? Nein!", antwortet er sich selbst, "und kann ich gewalttätig und gefährlich werden? Ja! Das aber kommt auf die Umstände an." Dies gelte für viele andere Menschen auch. Auf der Couch im Wohnzimmer seiner Gefährtin zeigt sich, wie sehr ihn noch die Zeit im Bezirkskrankenhaus gefangen hält: "Mir wollten sie da soziales Verhalten beibringen, aber da drinnen lassen sie die Leute verrecken."
Einmal habe er einem ThUG-Probanden das Leben gerettet. Der lag regungslos am Boden. Nachdem die Sicherheitskräfte auf Brommers Aufforderung nicht reagiert hätten, dem Mann zu helfen, habe er seinen Münchner Anwalt angerufen. Erst auf dessen Druck hin sei etwas passiert. Ahmed bestätigt: "Ich habe sofort im Bezirkskrankenhaus angerufen und nach einem verantwortlichen Arzt verlangt." Daraufhin sei in Straubing aufgelegt worden. Ahmed schickte mehrere Faxe hinterher, das wirkte offenbar. In der Neurologie sei später festgestellt worden: Der Patient hatte einen Schlaganfall. Das Bezirkskrankenhaus Straubing bestätigt, dass einer der ThUG-Klienten einen Schlaganfall erlitten habe. Aber: "Selbstverständlich wurde er in ein Fachkrankenhaus zur Diagnostik und Behandlung gebracht." Bei akuten Notfällen werde unverzüglich gehandelt.
Für seine Zukunft hat Martin Brommer noch keine Pläne - außer: "Raus aus dem kriminellen Milieu in München - damit will ich nichts mehr zu tun haben", sagt er. Wenn es gut laufe, werde er Gelegenheitsjobs finden. Er habe mit den Jahren gelernt, Hilfe anzunehmen. Das unterscheide ihn von früher. Und provozieren lasse er sich auch nicht mehr: "Wenn jemand meint, Brommer, du bist ein Depp, dann sage ich: Gut, erklär's mir."