Nach Amok-Alarm in Memmingen:"Es ist ein ganz normaler Junge"

Am Tag nach dem Amok-Alarm in Memmingen suchen Staatsanwaltschaft, Eltern und Lehrer nach den Motiven des Achtklässlers, der in einer Schule um sich geschossen hat. Der 14-Jährige galt als unauffällig. Die Waffen besorgte er sich von seinem Vater. Das ruft die Kritiker des deutschen Waffenrechts auf den Plan.

Anna Fischhaber, Stefan Mayr und Dietrich Mittler

Mittwochvormittag auf dem Sportplatz von Memmingen-Steinheim. In der Werbebande sind fünf Einschusslöcher zu sehen, in der Außenwand des Sportheims weitere drei. Ein paar Beamte untersuchen das Gelände, am Tresen der Kneipe im Sportheim steht Wirtin Karin Grüner und erzählt von den dramatischen Geschehnissen, die sich am Dienstagabend vor ihrer Türe abgespielt haben. "Eine Pistole hat er sich an den Kopf gehalten, mit der anderen Hand hat er herumgeballert", sagt sie.

Schuss in Memminger Schule

Die Lindenschule in Memmingen. Hier hat ein Achtklässler am Dienstag einen Schuss abgegeben.

(Foto: dapd)

Ihr war der Junge am Dienstagnachmittag auf dem Sportplatz aufgefallen. Sie schickt einen Jugendfußballtrainer zu ihm. Der fragt betont locker: "Na, alles klar?" Als er sieht, dass der Junge weint und verzweifelt ist, wird ihm klar: Das ist er.

Zu dieser Zeit fahndet die Polizei schon seit Stunden nach dem Schützen. Die Wirtin ruft die Beamten und bringt mit dem Trainer die Kinder, die zu dieser Zeit ebenfalls auf dem Sportplatz sind, in den Keller. Dort, in einem fensterlosen Gang, kauern die etwa 30 Personen stundenlang. Immer wieder hören sie Schüsse.

Auf dem Sportplatz verschanzte sich der Achtklässler in einer Hütte, nachdem er in seiner Schule einen Schuss abgegeben hatte und geflohen war. Hier schoss er wild um sich. Hier überredete ihn die Polizei schließlich kurz nach 20 Uhr, fast acht Stunden nachdem der erste Schuss in der Schule gefallen war, zum Aufgeben - und beendete damit das Drama unblutig.

Unterricht geht weiter

Mittwochvormittag an der Memminger Lindenschule. Der Schock sitzt tief: Die Lindenschule, eine Grund- und Mittelschule, gilt als Vorzeigeschule. Parallel zum Unterricht finden hier zahlreiche soziale Projekte statt, die unter anderem der Gewalt- und Suchtprävention dienen. Auch Mobbing ist an der Lindenschule Thema, Anfang dieses Jahres erst fand ein Seminar dazu statt, um die Klassensprecher dafür zu sensibilisieren.

Am Tag nach dem Amok-Alarm geht der Unterricht weiter. Die Lehrer wollen versuchen, im Laufe des Tages wieder zur Normalität überzugehen. Soweit das eben möglich ist. Stundenlang hatten sich Schüler und Lehrer am Dienstag in ihren Klassenzimmern verschanzt. An diesem Mittwoch stehen den knapp 300 Schülern Seelsorger zur Seite, um das Erlebte zu verarbeiten.

Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung hatte der Junge die Waffen in einer Tasche mitgebracht. In der Schule soll er damit zunächst auf einen Lehrer gezielt haben. Als ihm dieser die Waffe aus der Hand schlagen wollte, habe sich ein Schuss gelöst.

Laut Aussagen von Schülern hatte es zwischen dem Täter und Mitschülern einen Streit gegeben. Plötzlich sei der Schuss gefallen. Drei Schüler berichteten wiederum, sie hätten den Jungen mittags am Eingang der Lindenschule in der Memminger Innenstadt mit den Waffen hantieren gesehen und den Schuss gehört.

Einschusslöcher in mehreren Streifenfahrzeugen

Das Amtsgericht Memmingen hatte bereits am Dienstagabend Haftbefehl gegen den Schüler erlassen. Der Schütze befindet sich nun in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung. Derzeit werde er von Ärzten untersucht, die eine vorläufige Bewertung zu seiner Schuldfähigkeit abgeben sollen, bevor er dem Haftrichter vorgeführt wird, erklärte Oberstaatsanwalt Johann Kreuzpointer auf SZ-Anfrage.

Zudem müsse geklärt werden, ob der 14-Jährige wirklich nur wild um sich geschossen oder auch auf jemanden gezielt hat. Mehr als 20 Schüsse sollen am Dienstag auf dem Sportplatz gefallen sein. Einige Schüsse schlugen auch in "mehreren Streifenfahrzeugen" ein, bestätigte die Polizei am Mittwoch. Verletzt wurde aber niemand.

Schütze knackte Waffentresor des Vaters

Der Haftrichter muss nun entscheiden, was mit dem Schützen passiert. Staatsanwalt Kreuzpointer hofft, dann auch mit dem Jungen reden zu können. Nach seiner Festnahme habe er so unter Stress gestanden, dass er nicht vernehmungsfähig war. Die Waffen hatte der 14-Jährige von seinem Vater, einem Sportschützen, genommen. "Nach bisherigen Ermittlungen sieht es so aus, als habe der Vater die Waffen ordnungsgemäß verwahrt", erklärte der Staatsanwalt.

Demnach befanden sich die Waffen sowie die zugehörige Munition in einem speziell für die Verwahrung von Schusswaffen ausgerichteten Tresorraum im Wohnhaus der Familie. Der Junge soll die elektronische Sicherung umgangen haben, um an die Waffen des 53-Jährigen zu kommen. Bei den Waffen handelt es sich um eine großkalibrige Pistole, eine kleinkalibrige Pistole, sowie eine Luftdruckpistole.

Dass er an die Pistolen herankam, ruft erneut die Kritiker des deutschen Waffenrechts auf den Plan. "Weil wir es in Deutschland erlauben, dass Menschen zu Hause ihre tödlichen Sportwaffen aufbewahren, wäre es gestern fast wieder zu einer Schultragödie gekommen", sagte die Grünen-Bundesvorsitzende Claudia Roth. "Die tödlichen Knarren müssen endlich raus aus den Privatwohnungen, weil sie ein echtes Sicherheitsrisiko sind."

Ähnlich äußerte sich das Aktionsbündnis Amoklauf: "Waffen und Munition müssen getrennt voneinander außerhalb von Privatwohnungen gelagert werden", sagte Gisela Mayer vom Vorstand. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele betonte, dass das Waffenrecht dringend verschärft werden müsse. Ströbele forderte: "Wenn Mitglieder von Schützenvereinen zur Ausübung ihres Sports schon Waffen benötigen, dann müssen die Waffen nebst Munition zentral in den Vereinsräumen sicher verschlossen und bewacht werden."

Dem widersprach der Deutsche Schützenbund (DSB) mit Verweis auf noch größere Gefahren: "Wenn wir, was immer wieder gefordert wird, Schusswaffen und Munition in Schützenhäusern aufbewahren wollten, dann würde dort ein Munitionsdepot entstehen", sagte DSB-Vizepräsident Jürgen Kohlheim. Auch die Gewerkschaft der Polizei halte diese Art der Aufbewahrung für sehr viel gefährlicher, zumal Schützenhäuser oft außerhalb von Wohngebieten seien. Eine Verschärfung des Waffenrechts lehnt Kohlheim ab.

"Ein Hilferuf, wenn auch mit falschen Mitteln"

Am Dienstag hatte es geheißen, der Schüler sei als aggressiv bekannt gewesen. Bei einer Pressekonferenz in Schule erklärte der Rektor am Mittwoch jedoch, er habe den Achtklässler als einen "sehr sympathischen jungen Mann" wahrgenommen und ihn sehr geschätzt.

"Es ist ein ganz normaler Junge unserer achten Klasse, ein Mittelschüler, wie wir sehr viele an der Schule haben." Er sei auch nicht gemobbt worden. Der Rektor sprach von einer Einzeltat. Ein Schüler habe, aus welchen persönlichen Gründen auch immer, überreagiert. "Es war ein Hilferuf, wenn auch mit falschen Mitteln", sagte er.

Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) lobte, die hochgefährliche Situation sei von Lehrern und Schülern professionell gemeistert worden. Das Sicherheitskonzept habe gegriffen. Der Minister sagte, der 14-Jährige sei mit seiner Tat massiv in den "geschützten Raum Schule" eingedrungen. Er sprach von einem "Anschlag auf die Seelen" der Kinder.

Das Motiv des Jungen ist weiter unklar, möglicherweise soll Liebeskummer der Auslöser für die Tat gewesen sein. "Er hatte mit seiner dreizehnjährigen Freundin Streit und die Beziehung wurde beendet", hatte ein Sprecher der Polizei am Dienstag über den Achtklässler gesagt. Das Paar habe sich einen Tag zuvor getrennt.

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