Weiße und lachsfarbene Blüten, grüne Blätter, es müssen, sagt Theresia von Waldburg, einmal kräftige, leuchtende Farben gewesen sein. Inzwischen sind sie verblasst. Auf ungefähr 1770 datieren Forscher den Stoff, vermutlich war es ursprünglich ein Kleid aus Seide, vermutlich aus Frankreich, zumindest legen dies Vergleichsstücke nahe. Etwa 30 Jahre später, davon geht Textilrestauratorin von Waldburg aus, hat die Eigentümerin den Stoff zu einem Toravorhang umnähen lassen, eingewebt sind kostbare Metallfäden, wahrscheinlich aus Silber – alles in Handarbeit. „Wollte man so etwas heute nachweben, es würde ein Vermögen kosten.“
Aber nachweben soll von Waldburg den Vorhang gar nicht, sie soll ihn auch nicht ausbessern. Ihr Auftrag lautet zu konservieren, sie reinigt die Oberfläche, sie sichert Schäden im Stoff, indem sie das Material in Nylontüll einnäht. So verschleißt der Vorhang nicht weiter, so kann ihn das Jüdische Museum Augsburg Schwaben künftig sicher im Depot lagern.
Seit 2021 erforscht Historiker Christian Porzelt am Museum Silber- und Textilobjekte des ältesten, von einer Stiftung getragenen Jüdischen Museums in Deutschland. Die Provenienz ist bei einigen Exponaten ungeklärt, die Nachforschungen sind schwierig, weil die Nationalsozialisten die Archive vieler jüdischer Gemeinden zerstört haben. „Viele denken vielleicht, wenn die Objekte im Jüdischen Museum sind, dann sind sie bereits an der richtigen Stelle. Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu klären, wie diese Objekte ihren Weg ins Museum gefunden haben“, sagt Porzelt. Und das ist oft mühselige Puzzle- und Detektivarbeit – bei der manchmal der Zufall hilft.

SZ Bayern auf Whatsapp:Nachrichten aus der Bayern-Redaktion – jetzt auf Whatsapp abonnieren
Von Aschaffenburg bis Berchtesgaden: Das Bayern-Team der SZ ist im gesamten Freistaat für Sie unterwegs. Hier entlang, wenn Sie Geschichten, News und Hintergründe direkt aufs Handy bekommen möchten.
Sammlungsschwerpunkte des Museums sind Alltagsgegenstände, die die soziokulturelle Entwicklung der jüdischen Bevölkerung erzählen, sowie Zeremonialgegenstände aus Silber und Textil. Silber wie Tora-Schmuck steht oft im Fokus der Forschung, die Herkunft lässt sich meist leichter nachvollziehen, den Materialwert und kunsthistorischen Wert erkannten auch die Nazis. Textilien wie Toravorhänge, die in der Synagoge vor dem Toraschrein angebracht sind, in dem sich die Torarollen befinden, werden dagegen als Exponate weniger beachtet. Auch deshalb nimmt Historiker Porzelt die fünf historischen Toravorhänge im Bestand des Museums genau unter die Lupe.
Bei dem auf 1770 datierten Vorhang etwa ist es schwer, seine Herkunft noch detaillierter zu entschlüsseln, auch weil es keine Inschriften gibt. Bei einem anderen Stück, gefertigt ungefähr um 1900 aus dunklem Seidensamt, durchzogen von Goldfäden, gab es schon mehr Anhaltspunkte. „Gestiftet von den Hinterbliebenen der seligen Frau Regina Billigheimer, geb. Hirsch. Familie Eugen Billigheimer“, steht darauf, darüber ein hebräischer Text. „Mit den Namen kann man eine Suche gut eingrenzen“, sagt Porzelt.



Der Historiker fand heraus, dass Regina Billigheimer aus Altenstadt an der Iller stammte und dort auch heiratete, mit ihrem Mann aber zunächst in Würzburg und dann in Frankfurt am Main gelebt hat. Unterlagen von Einwohnermeldeämtern und über Trauungen sind hilfreiche Dokumente bei der Provenienzforschung.
„Man hat manchmal das Gefühl, man kennt die Menschen jetzt“, sagt Porzelt über seine Arbeit. Aber natürlich waren alle Informationen, die er bis dahin zusammengetragen hatte, nur Indizien dafür, woher der Vorhang stammt, wo er eingesetzt war. Ein Testament wäre schön gewesen, ein Zeitungsbericht, aber das fand Porzelt nicht. Also forschte er zunächst an anderen Stücken weiter – bis er im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg auf einen Brief stieß.
Eigentlich war er gerade auf der Suche nach anderen Dokumenten, aber es gehört zu Porzelts Arbeit, mal hier und dort zu stöbern, also liest er in Archiven gerne quer und auch immer mal wieder in Dokumente hinein, die er gerade gar nicht sucht. „Man scannt Texte nach Begriffen, zum Beispiel auf ‚Vorhang'“, sagt Porzelt. Ein „Glücksfund“, so nennt er den Brief eines Mannes mit dem Namen Leopold Rose, der 1965 aus Israel schreibt und sich nach Kunstgegenständen aus der inzwischen nicht mehr existierenden Synagoge in Altenstadt erkundigt. Er wuchs dort auf, sein Vater arbeitete dort als Lehrer. Und Leopold Rose schreibt von einem Toravorhang der Familie Billigheimer. Porzelt darf damit nahezu sicher davon ausgehen, dass der Vorhang tatsächlich lange in Altenstadt in Gebrauch war.
Offenbar haben in Altenstadt mehr Objekte die NS-Zeit überdauert
Der Historiker hat sogar noch zwei Fotos gefunden, wie der Vorhang einmal im kleinen Betsaal in Augsburg hängt, 1956 war das. Und wie er bei der Museumseröffnung im Jahr 1985 im Hintergrund eines Motivs zu sehen ist. In Augsburg ist die einzige jüdische Gemeinde beheimatet, die nach dem Krieg in Schwaben wiedergegründet wurde. Viele kleinere Landgemeinden wurden noch vor 1933 aufgelöst, andere Objekte kamen 1945 in den Besitz der Augsburger Kultusgemeinde als Rechtsnachfolgerin der von den Nationalsozialisten zerstörten jüdischen Gemeinden.
Altenstadt an der Iller, das hat Porzelt inzwischen auch herausgefunden, hält eine Sonderposition innerhalb all dieser kleineren, schwäbischen Landgemeinden. Aus unbekanntem Grund transportieren die Nazis im Zuge der Novemberpogrome 1938 Kunst- und Wertgegenstände der Synagoge nur teilweise aus Altenstadt ab. Das geht aus einem Brief des damaligen Landrates an den Generaldirektor der staatlichen Archive Bayerns aus dem Jahr 1939 hervor. Darin erklärt der Landrat, dass es in Altenstadt noch „Altarvorhänge“, „Toraschmuck“ sowie zahlreiche Dokumente und Archivalien gebe.
Die Textilien aber interessieren in München nicht, sie gehen nach Neuburg an der Donau. Nach der Befreiung 1945 werden sie zusammen mit anderen Objekten in drei Kartons nach Augsburg transportiert. „Offenbar haben aus Altenstadt mehr Objekte die NS-Zeit überlebt als aus anderen Gemeinden“, sagt Porzelt. Auch mehr Textilien, die der Historiker bisher nicht zuordnen kann.
Aber dass ein Fall so schön aufgeht, ist eben nicht die Regel. Sein Projekt der Provenienzforschung an ausgewählten Silber- sowie Textil-Judaica des Jüdischen Museums in Augsburg würde Porzelt deshalb gerne verlängern. Es gibt noch einige der insgesamt 160 zu untersuchenden Objekte, die er genauer erforschen will. „Wir würden gerne noch weitere Lücken schließen.“ Die Erkenntnisse sollen anschließend in die neu zu konzipierende Dauerausstellung einfließen, die nach Abschluss der Sanierung der Augsburger Synagoge eröffnet werden wird.