Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Wo Hitlers Notizen lagern

Eine Schatztruhe mit Millionen Akten, Briefen, Tagebüchern und Fotografien: Das Bayerische Hauptstaatsarchiv wird 100. Zu Besuch an einem Ort, an dem man der Vergangenheit sehr nahe kommt.

Von Hans Kratzer

Wenige Monate, nachdem er sein Mammutprojekt, den Rhein und die Donau mit einem Kanal zu verbinden, abgebrochen hatte, unterzeichnete Karl der Große am 22. Februar 794 in Franconofurd (Frankfurt) eine Urkunde. Auf diesem Papier ist festgehalten, dass der Kaiser der Kirche des heiligen Emmeram in Regensburg 266 Joch Land schenkte. Die vom Kaiser persönlich unterzeichnete Urkunde hat mittlerweile einen Zeitraum von 1227 Jahren überdauert. Damit ist dieses Ehrfurcht einflößende Relikt das älteste Archivstück, das im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München verwahrt wird.

Das Hauptstaatsarchiv, ein Koloss in der deutschsprachigen Archivlandschaft, besitzt unzählige solcher Kostbarkeiten. Es kommt einem manchmal vor wie eine riesige Schatztruhe. Der 100. Geburtstag, den das Hauptstaatsarchiv in diesen Tagen feiert, bietet Anlass genug, die Bedeutung dieser zentralen Gedächtnisinstitution zu hinterfragen und überdies zu beleuchten, welchen Herausforderungen "dieses Aushängeschild unseres Kulturstaats", wie es Kunstminister Bernd Sibler nannte, sich künftig stellen muss. Damit die Original-Unterschrift Karls des Großen auch in tausend Jahren noch hergezeigt werden kann.

Allein die Fülle der dort verwahrten Urkunden, Akten, Pläne, Nachlässe und Fotografien ist schier erdrückend. Zum Jahresbeginn 2021 war das Hauptstaatsarchiv für 813 362 069 Informationsobjekte im digitalen Archiv des Freistaates Bayern verantwortlich. "Und die Tendenz ist stark steigend", sagt Margit Ksoll-Marcon, die Generaldirektorin der Staatlichen Archive Bayerns. Hinzu kommen vier Millionen analoge Archivalieneinheiten, die aneinander gereiht die Distanz von München nach Rosenheim ergäben (55 laufende Kilometer). Und jedes Jahr kommt die Länge der Strecke von der Feldherrnhalle zum Siegestor an papierener Überlieferung neu hinzu.

Am 16. Juli 1921 wurde das Hauptstaatsarchiv ins Leben gerufen, zentrale staatliche Archive aber gab es in Bayern schon seit dem frühen 15. Jahrhundert. Mit der Gründung des Hauptstaatsarchivs besaß Bayern aber erstmals ein Zentralarchiv im modernen Sinne, in dem die bis dahin in München bestehenden staatlichen Archive (Allgemeines Reichsarchiv, Geheimes Staatsarchiv, Geheimes Hausarchiv und Kreisarchiv München) zu einer Institution zusammengefasst wurden. Das Schriftgut bayerischer Behörden und Gerichte, wichtige Unterlagen über die auswärtigen Angelegenheiten und sogar das Archiv des Königshauses der Wittelsbacher waren nun organisatorisch unter einem Dach vereint. Es sollte aber nochmals ein halbes Jahrhundert dauern, bis die Abteilungen räumlich zusammengeführt wurden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekam das Bayerische Hauptstaatsarchiv einen eigenen Gebäudekomplex am Ort des früheren Kriegsministeriums an der Ludwig- und Schönfeldstraße.

Im Krieg erlitt vor allem das damals in der Residenz untergebrachte Geheime Hausarchiv große Aktenverluste. Durch rechtzeitige Auslagerungen konnte aber auch viel Archivgut vor der Vernichtung bewahrt werden. Die großen Herausforderungen der Gegenwart betreffen vor allem die Archivierung digitaler Unterlagen, die für künftige Generationen lesbar gehalten werden müssen, trotz sich rasend schnell ändernder Hard- und Softwareformate.

"Ein Archivar muss heute breit aufgestellt sein", sagt Margit Ksoll-Marcon. Er muss mittelalterliche Handschriften ebenso lesen können wie er digitale Technik beherrschen muss. Nach dem Krieg ist die Institution ständig gewachsen. Zuerst wurde das Bayerische Kriegsarchiv eingegliedert, 1977 entstand dann eine eigene Abteilung für Sammlungsgut wie Flugblätter, Plakate und Fotos, für Nachlässe sowie Verbands- und Vereinsschriftgut. Seit 2007 gehört auch das Sudetendeutsche Archiv, als "Archiv im Archiv" dazu. Und damit die Bewahrung des Erbes der Vertriebenen aus den sudetendeutschen Gebieten.

Das Hauptstaatsarchiv ist auch ein bedeutendes Parlamentsarchiv. Zwar unterhält der Bayerische Landtag ein eigenes Archiv für sein archivwürdiges Schriftgut nach 1945. Die Unterlagen der bayerischen parlamentarischen Körperschaften der Monarchie und der Zwischenkriegszeit liegen hingegen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Hinzu kommen die Dokumente der zum 31. Dezember 1999 aufgelösten zweiten Parlamentskammer, des Senats.

Nirgendwo kommt man den Menschen der Vergangenheit näher als hier. Es ist berührend, wenn man etwa in der Abteilung Nachlässe den Abschiedsbrief liest, den der Student Willi Graf von der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" kurz vor seiner Hinrichtung im Oktober 1943 geschrieben hat. Es ist ein Dokument von seltener Würde und Eindringlichkeit. Allein in den Regalen der Abteilung V lagern zuhauf Akten, Briefe und Tagebücher von Menschen aus Politik, Kunst, Journalismus und so fort. Und von Verbrechern wie dem einstigen Gauleiter von Oberbayern, Adolf Wagner (1890-1944), einem Nazi der ersten Stunde. Sogar ein Teil des Hitler-Nachlasses wird hier verwahrt, etwa die Ernennungsurkunde zum Reichskanzler. Hitlers ehemalige Haushälterin in München hatte am Kriegsende einiges zusammengerafft, Ausweise, Skizzen, Notizen, vermutlich um es zu verscherbeln. Das Material wurde aber beschlagnahmt und landete in den 60er-Jahren im Hauptstaatsarchiv.

Ausstellung "100 Jahre Bayerisches Hauptstaatsarchiv", Schönfeldstr. 5, München, bis 29. Oktober. Geöffnet: Mo-Do 8.30-16 Uhr, Fr 8.30-13.30 Uhr (www.gda.bayern.de; Tel. 089/28638-2596).

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Quelle:
SZ vom 15.07.2021
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