Süddeutsche Zeitung

EM-Spiele in München:Zwischen Pils und Polizei

Die bayerische Regierung lässt 14 000 Zuschauer zur EM ins Fußballstadion und folgt dabei einem internationalen Trend. Es ist der richtige Schritt.

Kommentar von Johann Osel

Würde die Taktik der Nationalmannschaft allein von Virologen und unter dem Gesichtspunkt der Prävention erstellt, müsste sie bei der Europameisterschaft so aussehen wie bei der WM 2018. Wenig Drang nach vorne, vergeigte Torchancen, eine schwimmende Abwehr - und fertig wäre das rasche, schmerzhafte Aus in der Vorrunde. Folge: keine EM-Stimmung im Land, keine Freudenausbrüche, keine Gruppenbildung auf Plätzen. Also Sommermärchen abgesagt, Infektionsgefahren minimiert.

Niemand weiß, wie sich das deutsche Team schlagen wird. Ist es erfolgreich, wird die EM aus pandemischer Perspektive eine kritische Zeit. Viele Fans würden sich dann wenig scheren um Abstände, werden jubeln, sich umarmen, singen. Kaum beim großen Public-Viewing, das gibt es ja gar nicht - sondern im öffentlichen und privaten, kaum kontrollierbaren Raum. Polizeistreifen beim Gartenfest mit Freunden, zwischen Fernseher, Pils und Chipstüte? Schwierig.

Insofern ist die begrenzte Öffnung für Zuschauer, welche die bayerische Landesregierung für die Vorrundenspiele in München beschlossen hat, eine Nebensächlichkeit. Ein Fünftel der Sitze in der Allianz-Arena darf besetzt sein, 14 000 Gäste. Ministerpräsident Markus Söder präsentierte dies als Teil eines "umfassenden Öffnungskonzepts"; die EM selbst sei eine "Sondersituation" und ein "Pilot- und Probelauf", um Erkenntnisse für den Profisport wie die Bundesliga zu erhalten. Damit folgt Söder einem internationalen Trend - und es ist der richtige Schritt.

Irgendwann musste dieser Schritt zur Normalität kommen

Während fast überall auf der Welt nur noch über das Wie von Großveranstaltungen debattiert wird, hat Deutschland lange das Ob hinausgezögert. Irgendwann musste dieser Schritt zur Normalität kommen - die EM ist der ideale Anlass. Mancher mag eine Ungleichbehandlung von Turnier und Kultur vermuten - doch einerseits profitiert auch letztere von Lockerungen. Andererseits ist eine EM nun mal kein Kammermusikabend, sondern bewegt Millionen Menschen.

Die Risiken im Stadion dürften überschaubar sein. Nur Geimpfte, Genesene und Getestete werden dort sitzen, man weiß, wer die Inhaber der Tickets sind - da lässt sich nicht wie im Biergarten einfach Donald Duck in eine Liste eintragen. Der Stadionbesuch wird eine sterile Angelegenheit sein. Sogar Slots zur Ankunft mit der U-Bahn sind geplant. Es geht vielmehr um das Danach - wenn Zuschauer nach Spielen in der Stadt auf feiernde Fans treffen, wenn der Alkoholpegel steigt, ob aus Freude oder Frust. Und im Laufe der EM, wenn die Münchner Spiele vorbei sind, aber Finalrunden mit deutscher Beteiligung die Leute auf die Straßen treiben könnten.

Was will man tun bei spontanen Massenansammlungen: Wasserwerfer gegen Fußballfans? In der Pandemie war stets von Eigenverantwortung die Rede - diese wurde den Bürgerinnen und Bürgern zugleich in großen Teilen abgenommen, durch Regeln und Beschränkungen. Jetzt, bei stark sinkender Inzidenz, fallen viele Regeln weg, Eigenverantwortung zählt wirklich. Die Öffnungen für weite Bereiche des Lebens sind richtig. Die neue Lockerheit sollte aber kein Freibrief sein, für sich das Ende der Pandemie auszurufen und Erreichtes zu gefährden. Disziplin ist ratsam, konkret: Sollte der Wunsch nach kollektivem EM-Taumel aufkeimen, könnte man den Seinigen um den Hals fallen. Nicht jedem Fremden auf der Münchner Leopoldstraße.

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